Musik an sich


Reviews
Scelsi, G. (Liebner, S.)

Klaviersuiten Nr. 9 und 10


Info
Musikrichtung: Neue Musik Klavier

VÖ: 27.03.2015

(Wergo / CD / DDD / 2014 / Best. Nr. WER 67942)

Gesamtspielzeit: 59:36


Dass diese Einspielung von Giacinto Scelsis (1905-1988) esoterischen Klaviersonaten Nr 9 - Ttai (1953) und Nr. 10 - Ka (1954) so überzeugt, liegt nicht zuletzt an dem sehr "klangkörperlichen" Spiel von Sabine Liebner.

Scelsi hat diese Stücke wie alle Werke seiner reifen Phase im Zustand meditativer Versenkung "erlauscht" und "erspielt". Diese "Improvisationen" wurden mitgeschnitten und später von einem Assistenten in Partiturform gebracht. Zwar gibt es deutlich erkennbare Motive und meist einfache Entwicklungsprozesse; es wäre aber ein Missverständnis, wenn man dieses Material einfach nur so abspielen würde. Dann kann die Musik schnell banal und schlicht klingen. Scelsi geht es in erster Linie um den Klang, der sich unter dern Händen des Spielers auf und im Instrumentenkörper manifestiert. In den 1950er Jahren nähert er sich diesem Ideal auf verschiedenen Wegen, bis dann in den 1960er Jahren die großen Orchesterwerke entstehen. Hier stehen die Streichinstrumente mit ihrer Möglichkeit einer flexiblen, "schwankenden" Ton- und Klangestaltung im Zentrum. Ausgangspunkt ist dann meist der Einzelton, der als mikrokosmisches Klanguniversum aufgefasst und entfaltet wird.

Das Klavier ist naturgemäß starrer, was die Tonhöhen angeht. Scelsi versucht diese Begrenzung aufzubrechen, indem er einzelne Töne mit dicht benachbarten Tönen umspielt, mit kumulierenden Vor- und Nachschlägen arbeitet, die Klänge clusterartig verdichtet oder extreme Registrierungen und Dynamikkontraste sucht, um die Resonanzräume des Instruments auszuschöpfen. Die Motive sind oft kurz, eher signalartig und erzeugen mit der einfachen, repetitiven Architektur und den Steigerungswellen bzw. Variationen eine strenge, ritualartige Atmosphäre.
Der Titel der 9. Suite bezieht sich auf das I Ging, das chinesische Orakelbuch: "Tai" bzw. "Ttai" bedeutet "der Friede". Die Musik ist kontemplativ, ruhig, gemessen und Sabine Liebner lässt den Klängen viel Zeit, sich zu entfalten und zu verklingen. Es enstehen, ganz im Sinne Scelsis, unterschiedliche Zeit- und Bewegungsräume, die der Hörer gleichsam "durchschreitet". Eher aktive, farbige Passagen wechseln dabei mit Abschnitten von entrücktem, unpersönlichem Charakter.
"Ka", der Titel der 10. Suite, kommt aus dem Sanskrit und bedeutet "Essenz, Wesen" und ist zugleich ein Fragewort: "Wer" oder "Was". Die Musik Scelsis erweist sich hier als metaphysische Spekulation, die nach den letzten Dingen, nach dem Urgrund des Seins fragt. Dies, wie gesagt, tut sie nicht in der typisch westlichen Komponierhaltung, die nach komplexen strukturelle Beziehungen in der Musik sucht (darin gleichen sich z. B. Bach, Beethoven, Schönberg und Stockhausen). Sie tut es, indem sie den Klang als erste und ursprüngliche musikalische Materie behandelt und ihm alle übrigen Elemente, die rhythmischen, melodischen, harmonischen, nachordnet. Ka hat eine unruhigere Klangoberfläche als Ttai. Der 7. Abschnitt stellt sogar nach Scelsi einen klassichen chinesisschen Schwertkampf in völliger Dunkelheit (Zen) dar. Die Musik bleibt dabei aber ganz abstrakt, reduziert, wie eine Tuschezeichnung.

Sabine Liebners Interpretation profitiert sehr von ihrem Klanggespür, das sie an den Werken der New York School um John Cage und Morton Feldman geschult hat: Die Einzeltöne atmen, die dichten Tonkomplexe wirken innerlich belebt, die rhythmischen Zellen erscheinen nie starr, sondern schwingen ganz organisch. Scelsi, der esoterische Avantgardist, der über viele Jahrzehnte für die Schublade komponiert hat, erweist sich da als gar nicht so ferner Verwandter seiner amerikanischen Kollegen. Mit Cage teilt er die Orientierung an den spirituellen Strömungen des Fernen Ostens, mit Feldman die Verwurzelung in der europäischen Tradition.



Georg Henkel



Trackliste
01-09 Suite Nr. 9 "Ttai" 36:30
10-16 Sutie Nr. 10 "Ka" 22:55
Besetzung

Sabine Liebner: Klavier


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