Musik an sich


Reviews
Rameau, J.-Ph. (Pichon, R.)

Castor et Pollux (Vers. 1754)


Info
Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 15.05.2015

(Harmonia Mundi / Harmonia Mundi / 2 CD / DDD / live 2013 / Best. Nr. 902212.13)

Gesamtspielzeit: 149:00



GELUNGENER OPERN-ZWILLING

Als Jean-Philippe Rameau sich anschickte, die französische Opernbühne zu erobern, war seine Tonsprache für die barocken Ohren derart avangardistisch, dass die ersten Aufführungen vieler seiner Werke zunächst keine eindeutigen Erfolge waren. So auch bei seiner zweiten Tragédie en musique Castor et Pollux. 1737 überforderte das Publikum die ungewöhnliche Dramaturgie: Der 1. Akt beginnt zum Beispiel mit einer monumentalen Trauerfeier für Castor, der dann aber als Figur erst in der Unterweltszene des 4. Aktes auftritt. Nicht weniger anspruchsvoll war die durchweg hohe musikalische Dichte: So besteht der 3. Akt fast nur aus Ensembleszenen, Chören und Tänzen - so etwas war bis dahin nur den Aktschlüssen vorbehalten.

1991 hat William Christie mit Les Arts Florissants für Harmonia Mundi die Erstfassung eingespielt und damit seinerzeit einen Maßstab für die Rameau-Interpretation gesetzt. Nun folgen Raphael Pichon und das Ensemble Pygmalion mit der revidierten zweiten Fassung von 1754 beim gleichen Label in Form eines störungsfreien Konzertmitschnitts.
Welche Fassung die gelungenere sei, darüber gehen die Meinungen auseinander; es handelt sich um durchaus ungleiche Zwillinge: Den musikalisch reizvollen Prolog hat Rameau in der revidierten Version gestrichen, ein ganz neuer erster Akt wurde dafür komponiert, die Handlung etwas anders akzentuiert und darum auch viele Rezitative geändert oder gekürzt. Das Motiv selbstloser Bruderliebe wurde gegenüber der Erstfassung noch stärker betont: Pollux möchte den Platz seines Bruders Castor in der Unterwelt einnehmen, damit dieser mit seiner geliebten Telaire vereint sein kann - im Zeitalter der Aufklärung hat dieses menschliche Motiv sicher sehr zum letztendlich sehr großen Erfolg der Oper beigetragen.

1754 hatte sich das Publikum freilich etwas an Rameaus Experimente gewöhnt und war eher bereit, auch ungewöhnliche Harmonien zu goutieren, z. B. die kühne Kadenz, mit der Rameau den Begräbnischor Que tout gémisse mit der anschließenden Klage Telaires Tristes apprêts, pâles flambeaux verbindet. Diese Begräbnisszene gehört zu den stärksten Momenten der insgesamt sehr ansprechenden neuen Einspielung und zeigt, worauf es Pinchon und seinem Ensemble ankommt: Der Klang ist voller, sinnlicher und wärmer als in der Christie-Interpretation, aber auch breiter.
Besagte Chorszene profitiert sehr von dieser sonoristischen Intensität und gewinnt eine fast schon romantische Wucht, die auf Berlioz vorausweist. Der Chor ist hier wie insgesamt ausgezeichnet: homogen, mit genau der richtigen Mischung an Obertönen, um die kühnen Harmonien Rameaus zum leuchten zu bringen.
Die Soli werden dagegen mit viel mehr Vibrato und einem größeren Ton präsentiert. Emmanuelle de Negri lädt die Klage Telaires mit vokaler Emotion auf, das Stück klingt dafür auch etwas konventioneller, sozusagen opernhafter als noch in der Christie-Interpretation mit der kühler und kristalliner singenden Angnès Mellon.
Obwohl Christies Orchester trotz vergleichbarer Besetzung feiner, manchmal auch gläserner tönt, überzeugt die ältere Version vor allem in den elgant und nunanciert dargebotenen Tänzen. Da wirkt bei Pinchon manches etwas weniger differenziert, sozusagen pastelliger, trotz der farbigen Instrumentierung, die für die Neueinspielung nach jüngsten Notenfunden noch einmal revidiert wurde.
Ein Pluspunkt ist sicher, dass die dramaturgisch sehr vernachlässigte Rolle der eifersüchtigen Zauberin Phoebe, die Rameau in der zweiten Fassung noch stärker reduziert hat, von Pichon etwas aufgewertet wird, indem er einen kurzen, hochdramatischen Monolog dieser Figur aus der Erstfassung in die Neueinspielung hinüberrettet. Mit ihrem dunklen Mezzo verleiht Clementine Margaine dieser Figur eine starke Ausstrahlung, singt dabei in der Höhe mitunter fast schon zu druckvoll. Etwas flach in der Tongebung wirkt dagegen der Castor von Colin Ainsworth, trotz der sorgfältigen Detailgestaltung. Der recht umfangreiche Dialog zwischen ihm und dem dunkel, ebenfalls mit deutlichen Vibrato timbrierten Tenor Florian Sempey in der Rolle des Pollux im 4. Akt gerät trotzdem sehr spannungsvoll, dramatisch, leidenschaftlich - hier kann man hören, wie Rameau die Rezitativkunst Lullys vollendet hat. In diversen Nebenrollen brillieren Sabine Devieilhe, Jupiter Ancely Virgil und Christian Immler.

Dies ist sicherlich die derzeit beste Zweitfassung von Rameaus großer Oper auf CD und eine nicht nur philologisch bedeutsame Ergänzung der Originalversion. Bleibt zu hoffen, dass Pichon und das Ensemble Pygmalion bei Harmonia Mundi jenen Platz einnehmen, der seit dem Weggang von William Christie vor über 20 Jahren doch etwas verwaist ist.



Georg Henkel



Besetzung

Colin Ainsworth: Castor
Florian Sempey: Pollux
Emmanuelle de Negri: Telaire
Clementine Margaine: Phoebe
u. a.

Ensemble Pygmalion

Raphael Pichon: Leitung


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