Billy Joel

The Stranger (Review-Serie, Teil 6)


Info
Musikrichtung: Rock / Songwriter

VÖ: 05.11.2021 (1977)

(Columbia / Legacy / Sony)

Gesamtspielzeit: 42:25



Billy Joel-Vinyl-Review-Serie 2022, Teil 6: The Stranger



Es mag den einen oder anderen geben, der in The Stranger nicht das Top Album in Billy Joels Katalog sieht. Völlig unstrittig aber ist es sein Durchbruch-Album gewesen.
Dass Barbra Streisand „New York State of Mind“ und Ronnie Spector zusammen mit der E-Street-Band „Say Goodbye to Hollywood” vom Vorgänger Turnstiles gecovert hatten, hatte ihm vermehrte Aufmerksamkeit eingebracht, die dem Erfolg von The Stranger sicher nicht geschadet hat.


Ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch dieses fünfte Album zieht, ist das Verhältnis zu der Vorstellung von einem bürgerlich anständigen Leben. Beim Opener schlägt sich das wieder einmal nieder in dem fast dokumentarischen Blick auf ganz typische Normalmenschen. Anthony arbeitet hart und spart, aber worauf? Auf ein Haus in einem guten Vorort? Du wirst eher einen Herzanfall bekommen. Daneben steht der Chevy-Fahrer Sergeant O’Leary, der abends noch als Barkeeper arbeitet, um sich irgendwann den Traum vom Cadillac zu erfüllen. Wenn er den aufgrund eines kaputten Rückens dann nicht mal fahren kann, bleibt ihm immer noch das Putzen der Kotflügel, spöttelt Joel.
Joel erzählt die Geschichten in einem ruhigen Ton mit schöner rhythmischer Akzentierung. Ein auf den ersten Hör unspektakulärer Song, der aber auch durch Richie Cannatas Saxophon eine ganze Mange Glanz erhält.

Das Thema wird in dem Song weitergesponnen, der für mich das ewige Magnum Opus von Billy Joel bleiben wird. „Scenes from an italian Restaurant“ ist eine Art italienische Oper in New York, die mit ihrem geradezu symphonischen Aufbau in eine Reihe mit Stücken wie John Miles' „Music“, Queens „Bohemian Rhaposdy“ und Meat Loafs „Paradise by the Dashboard Light“ gehört.
Billy sitzt mit einem Freund in einem italienischen Restaurant und denkt an die Tage ihrer Jugend zurück, als sie in Arbeiterschuhen, Lederjacken und Jeans durch die Straßen zogen. Da waren Brenda und Eddie King and Queen der Clique, weil sie bereits eine feste Beziehung hatten. Natürlich erzählt Billy Joel keine Idylle. Die beiden heiraten, richten sich ein modisches Apartment mit Wasserbett und Bildern aus dem Kaufhaus ein. Das Ganze geht so lange gut, bis das Geld knapp wird. Der Weg zurück in die Clique ist versperrt. Es bleibt nur das Einsammeln der Bruchstücke ihres Lebens, das dann irgendwie weitergelebt werden muss „from the High to the Low to the End of the Show“.
Das Stück beginnt ganz verhalten mit der Schilderung der beiden Freunde beim Glas Wein – wohl zu Abend, wenn sich die Anspannung des Tages gelegt hat. Schwelgerische Streicher leiten einen Wechsel an – und dann rockt es richtig los, von einer lebenslustigen Klarinette begleitet, wenn an das Leben der Clique zurückgedacht wird. Das Ganze steigert sich noch, wenn wir Brenda und Eddie in ihrem Cabrio die Straße auf und ab cruisen sehen. Die dramatische Entwicklung ihrer Beziehung wird mit hämmerndem Piano und röhrendem Saxophon begleitet.
Dann wieder die symphonische Streicherüberleitung. Das Ende des Stückes nimmt den Anfang wieder auf, aber etwas hymnischer mit einem melancholischen Saxofon von Cannata, der diesem Album immer wieder seinen Stempel aufdrückt.

„Only the Good die young“ geht das Thema von der anderen Seite an. Virginia (Der Name ist kein Zufall.) ist ein Mädchen aus katholischem Haus, das zur Konfirmation (Billy Joel ist halt kein Konfessionskundler.) ein goldenes Kreuz – und eine brandneue Seele – bekommen hat, sitzt hinter den Bleiglas-Fenstern, die sie vor dem Blick der Welt da draußen schützen sollen, und betet den Rosenkranz. Vor dem Fenster steht Billy und ruft sie heraus. Ja, er ist einer aus der „dangerous Crowd“, von der ihre Eltern immer erzählt haben. Ganz so schlimm sind sie aber doch nicht. Sie lachen vielleicht gelegentlich ein wenig zu laut. Billy lockt Virginia herauszukommen zu den Bösen, denn nur die Guten sterben jung. Vor allem aber habe niemand ihr von dem Preis erzählt, denn sie für ihr Brav-sein zahlen muss.
Man kann in „Only the Good die young“ ein Prequel zu „Leader of the Pack“ von den Shangri-Las sehen, in dem das gut behütete Mädchen die Eltern anfleht, sie doch mit dem „Leader of the Pack“ gehen zu lassen. In „Only the Good die young“ ist es noch nicht ganz so weit. Noch hat Virginia nicht begonnen, ihre Eltern anzubetteln sie gehen zu lassen. Joel weiß, dass Virgina gesagt wurde, da gäbe es einen Himmel für die, die warten können. Er kontert das mit der unschlagbaren Formulierung „I’d rather laugh with the Sinners than cry with the Saints. Sinners are much more Fun”
Musikalisch ein toller Mix aus rockendem Songwriter und rock’n’rolligen Ausbrüchen, in dem sich Piano, Drums und natürlich auch immer wieder das Saxophon austoben dürfen. Wegen seines so deutlich antikatholischen Tenors ist „Only the Good die young“ das einzige Stück, das bei verschiedenen Radiosendern zeitweise auf dem Index stand.

Zweites Hauptthema ist die Liebe – natürlich vor allem in der Über-Ballade „Just the Way you are“, wohl dem bekanntesten Stück Billy Joels, das einfach nur Gänsehäute wachsen lässt – auch beim 1000sten Mal Hören. Unschlagbar! Gleich diese Wahnsinnsorgel, die uns ganz sanft auf den Partner zuführt, den wir genauso lieben, wie er ist.

Das Liebe auch weh tun kann, dafür steht „She’s always a Woman“. Es zeichnet die Karikatur des eiskalten Engels, der Männer mordend durch die Gegend läuft, ihre Hoffnungen weckt, ihnen alles verspricht, nur um sie dann fallen zu lassen und lachend zuzusehen, wie sich die Getretenen in ihrem Schmerz winden.
Joel macht gute Miene zum bösen Spiel und lässt das Ganze durchgehend wie ein Liebeslied klingen, denn für ihn wird sie immer eine Frau bleiben.

„Get it right the first Time“ und „Vienna“ sind so etwas wie Antipoden. In dem rockenden „Get it right the first Time“ drückt Billy Joel auf’s Tempo und rät die Chancen des Lebens sofort zu ergreifen, weil es sonst zu spät sein könnte. „Vienna“, das sanfteste Stück des Albums, startet mit dem Rat „Slow down you crazy Child“. Eine Warnung vor dem Burnout an Überambitionierte. Wien wird dabei zum Symbol eines Ortes der Ruhe, der auf den wartet, der das Telefon mal abschalten und für eine Weile verschwinden kann.

Eine besondere Rolle spielt „Everybody has a Dream“, das nicht nur wie aus einer anderen Zeit klingt, sondern von Billy tatsächlich bereits zu Zeiten seines Debüts geschrieben wurde. Wenn es verklungen ist und man meint die Scheibe sei vorbei, erklingt für eine Minute noch einmal das sanft gepfiffene Intro und Outro des Titelsongs und bindet den „Oldie“ somit in das Album ein.

Der besagte Titelsong, rhythmisch und doch ruhig, sanft und gleichzeitig kraftvoll, wie es das Albums fast durchgehend ist, ist so etwas wie eine Überschrift, die über all diese Geschichten gesetzt werden kann. Denn wir alle gehen unseren Weg durchs Leben, indem wir uns Masken aufsetzten, um so zu erscheinen, wie wir sein wollen.
Spannend ist in diesem Kontext das eindringliche Versprechen, ich werde dich lieben „Just the Way you are“, in seinem Mega-Hit.

Um ein Haar wäre The Stranger von dem Beatles Produzenten George Martin produziert worden. Aber der wollte, wie schon in der Vergangenheit angefragte Produzenten, mit Session-Musikern arbeiten, was Joel erneut strikt ablehnte. Das habe sowohl mit dem Sound wie mit den Songs zu tun. „Ich schreibe die Songs für die Band. Wir haben diese Chemie. Wir haben diese Interaktion. Und ich werde meine Band nehmen.“

The Stranger kommt in exakt derselben Ausstattung, wie der Vorgänger: einfaches Steckcover, Innenhülle aus bedrucktem Hochglanz-Papier, auf der einen Seite die Texte, auf der anderen ein Foto: dieses Mal Billy Joel im Anzug Boxhandschuhe haltend.



Norbert von Fransecky



Trackliste
Seite 1
1 Movin' out (Anthony's Song) (3:30)
2 The Stranger (5:09)
3 Just the Way you are (4:50)
4 Scenes from an italian Restaurant (7:35)

Seite 2
5 Vienna (3:34)
6 Only the Good die young (3:55)
7 She's always a Woman (3:20)
8 Get it right the first Time (3:55)
9 Everybody has a Dream (6:37)
Besetzung

Billy Joel (Keys, Voc)
Doug Stegmeyer (B)
Liberty deVitto (Dr)
Richie Cannata (Sax, Klarinette. Flöte, Orgel)
Steve Khan (Git)
Hiram Bullock (E-Git)

Gäste:
Hugh McCracken (Ac. Git <3,4,7,8,9>)
Steve Burgh (Ac. Git <3,7>, E-Git <4>)
Richard Tee (Orgel <9>)
Ralph MacDonald (Perc <2,3,8,9>)
Phil Woods (Sax <3>)
Dominic Cortese (Akkordeon <4,5>)
Phoebe Snow (Back Voc <9>)
Lani Groves (Back Voc <9>)
Gwen Guthrie (Back Voc <9>)
Patti Austin (Back Voc <9>)



 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>