Barclay James Harvest

Gone to Earth


Info
Musikrichtung: Soft Prog

VÖ: 09/1977

(Polydor)

Gesamtspielzeit: 39:57


Barclay James Harvest haben unter Prog-Connaisseuren einen eher zweifelhaften Ruf. Das nehmen sie auf Gone to Earth mit dem Titel „Poor Man’s moody Blues“, in dem sie den Titel „Nights in white Satin“ zitieren, ironisch auf. Man hatte sie zuvor als „Moody Blues für Arme“ bezeichnet. Ihr Sound wurde als zu gefällig, zu weich, zu plüschig bezeichnet.

Auch unter (frühen) Barclay James Harvest-Fans wird in ihm oft der Sündenfall gesehen, mit dem sich die Band von dem oft Folk-geprägten Früh-70er Prog in der Nachbarschaft von Genesis auf den Weg zu einem poppigen 80er Jahre Sound begeben hat.

Nirgendwo waren Barclay James Harvest so erfolgreich, wie in Deutschland. In den USA haben sie es ein einziges Mal in die Top 200 geschafft – mit dem Vorgänger-Album Octoberon, das dort drei Wochen lang mit der Spitzenposition #174 präsent war. Im UK hat es vier Mal Silber gegeben; in Deutschland zwei Mal Gold und zwei Mal Platin – u.a. für Gone to Earth, das sich bei uns fast vier Jahre lang in den Charts halten konnte.

Ich schließe mich vollen Herzens der kaufenden Mehrheit an. In meinen Ohren enthält das Album drei absolute 100-Punkte-Songs, drei weitere von Champions-League-Format und die verbleibenden drei sind alles andere als Filler oder Ausfälle.

Fangen wir mal hinten an. Die recht verhaltene Ballade „Sea of Tranquility“, die anfangs deutlicher dünner wirkt, als das ansonsten in einem sehr satten Sound produzierte Album, aber im Laufe der vier Minuten deutlich an Power gewinnt, schlägt deutliche Brücken zu früheren Alben der Band. „Friend of mine“ lässt mit seinem latenten Country Feeling an die Eagles denken. Last not least gehört hier die sanfte Ballade „Spirit on the Water“ hin.

Die von mir als Champions-League-verdächtig bezeichneten Songs befinden sich allesamt auf der damaligen zweiten LP-Seite. Da wäre am Anfang die herrliche Ballade „Hard hearted Woman“ und am Ende zuerst der kraftvolle „Lepper’s Song“ mit einem fast Reggae-artigem Rhythmus und dann als sehr ruhiges Outro „Taking me higher“, das soundmäßig wieder in die Vergangenheit weist und mit schönen sanften Keyboard-Riffs für Gänsehautmomente sorgt.

Die Top-Songs befinden sich auf Seite 1, die damit eine der stärksten Album-Seiten aller Zeiten ist. Auf Platz drei liegt die überirdisch schöne Rock-Ballade „Love is like a Violin“ mit ihrem fast spartanischem Anfang und dem instrumental göttlich unterfütterten Gänsehaut-Gesang.

Einen zweiten Platz gibt es nicht – dafür zwei erste! „Hymn“ dürfte - neben den Hit-Singles der späteren Alben - der bekannteste Song der Band sein. Zu Recht! Gäbe es den Begriff Hymne noch nicht, wäre er von diesem Song geprägt worden. Wie so oft ist das Geniale im Prinzip völlig simpel gestrickt, aber von einer solchen Kraft, Schönheit und Erhabenheit, das „Hymn“ den Hörer wirklich auf „die andere Seite“ zieht. Was bei Jim Morrison der verzweifelte Ruf war, dorthin zu gelangen, wird bei Barclay James Harvest zu der gelungenen Erfüllung – und „Hymn“ ein echter Gospel ohne jeden Gospel-Sound.

Songs wie „Hymn“ und „Poor Man’s moody Blues” angemessen zu beschreiben stellt den Rezensenten vor eine schlicht unmögliche Aufgabe. Er müsste Worte finden, die ähnlich genial sind, wie das zu beschreibende Stück. „Poor Man’s moody Blues” ist eine der stärksten Rock-Epen ever – für mich steht es in einer Reihe mit John Miles‘ „Music“, Supertramps „Asylum“, der „Bohemian Rhapsody“ von Queen, Ten CCs „I’m not in Love“ und natürlich auch den „Nights in white Satin“ der Moody Blues.

Ein Album, das einen süchtig nach Musik machen kann – wenn man es noch nicht ist. Übrigens eine der empfehlenswertesten Süchte!



Norbert von Fransecky



Trackliste
1Hymn 5:06
2Love is like a Violin 4:03
3Friend of mine 3:30
4Poor Man's moody Blues 6:55
5Hard hearted Woman 4:27
6Sea of Tranquility 4:03
7Spirit on the Water 4:49
8Leper's Song 3:34
9Taking me higher 3:07
Besetzung

John Lees (Voc, Git)
Les Holroyd (Voc, B, Git, Keys)
Woolly Wolstenholme (Voc, Mellotron, Keys)
Mel Pritchard (Dr, Perc)



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