3 + 4 ≠ 7: Elgar und Rachmaninow beim MDR-Sinfonieorchester
Zwei dreisätzige (spät-)romantische Werke stehen auf dem Programm des vorletzten MDR-Orchesterkonzertes, ehe in der sächsischen Heimat des Klangkörpers der erneute Kulturstättenlockdown ausgerufen wird (das letzte ist dann eine Woche später, am Totensonntag, ein „Requiem“ betiteltes, das allerdings irritierenderweise neben Hindemiths Walt-Whitman-Requiem auch Mendelssohns Reformationssinfonie bringt). Der kundige Hörer stutzt zunächst – zeittypisch hat ja das Solokonzert drei Sätze, die Sinfonie aber vier, was summiert die Zahl 7 ergäbe. Also zwei Solokonzerte in einem Programm statt eines Solokonzertes und einer Sinfonie, wie das heutzutage üblich ist? Zunächst erklingt das Konzert für Violine und Orchester h-Moll op. 61 von Edward Elgar, ein traditionsgemäß strukturiertes Werk aus zwei schnelleren Außensätzen, die einen langsameren Mittelsatz rahmen. Der Allegrosatz hebt mit einer langen Orchestereinleitung in ABA-Form mit ein paar Variationen an, in dem sich die Solistin Simone Lamsma (Foto)physisch einschwingt, bevor warm-weiche Hörnerklänge zu ihrem ersten Einsatz überleiten. Ihr Part bleibt lange in einem entrückten Modus, wozu der relativ dunkle Ton ihrer 1718er Stradivari prima paßt. In der weiteren Folge des Satzes stellt Elgar die Beteiligten aber vor nicht ganz leichte Aufgaben: Die Solovioline zerrt oft an den Ketten, das Orchester darf ihr aber nicht folgen. So gekonnt die entrückten Passagen auch hier gestaltet werden, so schwierig ist es für Dirigent Michael Francis, die wilde und rhythmisch komplexe Hinleitung zum großen Orchesterausbruch zu gestalten, und auch in der Folge finden er, Orchester und Solistin nicht immer ganz den Idealweg, was freilich durch so manchen brillant gestalteten Wechsel zwischen großen Tutti und lockeren Intermezzi wettgemacht wird. Das Satzfinale fordert der Solistin nochmal besondere Energieleistungen ab, die die blonde, in ein türkisfarbenes Kleid mit dunklem Muster gehüllte Niederländerin auch gekonnt abliefert, wilde Sprünge auf der Bühne inclusive. Auch im Andante wackelt die Orchestersicherheit zunächst, was die Erzeugung einer verträumten Stimmung aber nicht beeinträchtigt, zumal die folgenden Phrasenschlüsse wieder sitzen wie eine Eins. Lamsma spinnt die Stimmung zauberhaft weiter, die vereinzelten Tutti gestaltet Francis so, dass sie diese Stimmung gleichfalls nicht stören, auch wenn die letzte Entrückung hier nicht erreicht wird, wohl auch noch nicht erreicht werden soll. Das bleibt dem Satzschluß vorbehalten: Nach wieder etlichen Orchesterwacklern, u.a. einem recht harten Holzeinsatz, entschwebt das Geschehen so gekonnt, dass im Publikum schon jemand losklatscht, weil er wohl argwöhnt, da könne nichts mehr kommen. Aber nein, da ist ja noch der Finalsatz im Allegro molto, in dem die Beteiligten losstürmen, als gäbe es kein Morgen – aber eben nicht attacca, was den Klatscheinsatz wohl verhindert hätte und wie es in vielen verwandten Werken vorgeschrieben ist. Die erbarmungslose Wildheit bleibt aber bald wieder nur der Solovioline vorbehalten, während sich das Orchester beruhigt, Lamsma aber auch über ruhige Orchesterpassagen wildes Geschredder legt und Francis es diesmal schafft, diese beiden Welten durchgehend organisch zu verknüpfen. Ab und zu beteiligen sich auch die Orchesterstreicher am Ausrollen ultraspeediger Klangteppiche, und diese sitzen nunmehr paßgenau. Ein genaues gestalterisches Händchen erfordert die Kadenz, denn hier agiert die Solistin nicht durchgängig allein, sondern muß sich gelegentlich mit unruhigen Pizzikati der Orchesterstreicher auseinandersetzen, und dieser Aufgabe entledigen sich Lamsma und Francis mit goldenem Händchen. Die Trillerketten am Kadenzende münden in ein kurzes speediges Finale mit einigen bombastischen Verharrungen, bei denen man automatisch „Pomp and Circumstance“ denkt, und diesmal bricht der Jubel an der richtigen Stelle los, nämlich gleich nach dem Schlußton dieses Satzes, verbunden mit sofortigen Bravorufen für die Solistin, die allerdings auf eine Zugabe verzichtet. Nach der Pause steht, nein, kein weiteres Solokonzert auf dem Programm, sondern die 3. Sinfonie a-Moll op. 44 von Sergej Rachmaninow – und die ist tatsächlich nur dreisätzig (es ergibt sich somit 6 als Summe der Sätze), allerdings noch nicht auf avantgardistische Weise das althergebrachte viersätzige Sinfonieschema aufbrechend (wofür etwa Mahler schon die Grundlagen bereitet hatte), sondern einfach den langsamen Satz und das Scherzo zu einem Satz zusammenfassend, aber ansonsten die Grundstruktur nicht antastend. Heißt praktisch: Der erste Satz besitzt einen typischen Aufbau mit Lento-Einleitung und Allegro-moderato-Hauptteil. Das Lento-Thema wird scheinbar gleich niedergemäht, erweist sich aber als langlebig, was die Stimmungsfortpflanzung angeht. Die Melodik atmet den Geist slawischer Folklore, beispielsweise in diversen Cellopassagen schön herausgearbeitet. Francis gönnt dem Klang Breite, wenn der danach verlangt (und dann gern viel – eine typische und meist auch passende Herangehensweise an das sinfonische Werk Rachmaninows), evoziert im zentralen Orchesterausbruch viel Druck (der Schlag der großen Trommel besitzt hohes Vernichtungspotential) und meistert auch die weiteren Entwicklungen zwischen Unheildrohen und ausbleibenden Folgen. Und den in sich widerstreitenden Satzschluß mit seinen ins Leere führenden Triumphanklängen und der vorherrschenden Zurückhaltung so behutsam zu formen, wie es der amerikanische Dirigent an diesem Abend tut, das muß man auch erstmal schaffen. Satz 2 ist also der erwähnte Doppelsatz, wobei Rachmaninow die in dieser Konstellation logischer anmutende Variante wählt, mit dem langsamen Teil zu beginnen, in diesem Fall einem Adagio ma non troppo. Der große Horn-Harfe-Dialog braucht eine Zeitlang, um sicher zu werden, erreicht dieses Ziel aber dann, und es breitet sich erneut eine Stimmung aus, die behutsame Gestaltung erfordert, was Francis auch leistet. Kammermusikdurchwoben glitzert das Material, und selbst die Aufgabe des Komponisten an das Orchester, mit großer Besetzung spieluhrartige Klänge hervorzubringen, lösen die MDR-Musiker mit ihrem Gast am Pult ohne Probleme. Der Scherzo-Teil des Satzes, ein Allegro vivace, zeigt sich zunächst eher fragmentarisch (ob der latente „Warschawjanka“-Anklang Zufall ist? Gekannt haben könnte Rachmaninow das aus der Mitte des 19. Jahrhunderts datierende Lied durchaus), bevor mehr Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht, dem mindestens unterschwellig ein starker Vorwärtsdrang innewohnt. Auch hier müssen aber Orchester und Dirigent Kontraste gestalten können, also einerseits gelegentliche Lockerheit, gar Witz, andererseits aber einen weiteren vernichtenden Schlag der großen Trommel, aus dem wiederum ein ruhiges, sehr weit zurückgenommenes „Trio“ mit Kammermusikanflügen entsteht. In Abweichung zum normalen Schema folgt danach aber keine Scherzo-Reprise, sondern der Satz geht in Ruhe mit schnurrendem Fagott zu Ende. Das Finale koppelt verschiedene Allegro-Tempobezeichnungen, wobei der Komponist zwar auch hier Anflüge slawischer Melodik verarbeitet, zumeist aber ein recht eigenständiges Hin und Her gestaltet, wozu abermals epische Breite gehört, die Francis und das Orchester auch in gehörigem Maße liefern, ebenso wie sie in den (überwiegenden) Tempopassagen einiges an Feuerwasser ausgießen. Der Trauermarscheinwurf wirkt an diesem Abend allerdings wie ironisiert, was möglicherweise nicht das Ziel war – oder doch? Betörende Holzsoli glätten die eventuell leicht gerunzelte Stirn jedenfalls schnell wieder, und nur das enorm schwierige Kunststück, den Bombastschluß nicht wie angeklebt wirken zu lassen, bewältigen Francis und das MDR-Sinfonieorchester an diesem Abend nicht, obwohl sie den Dynamikgipfel tatsächlich dort erreichen. Trotzdem überwiegt der positive Eindruck klar, was auch das Publikum so sieht, das sofort in lauten Applaus ausbricht. Roland Ludwig |
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