Leoncavallo, R. / Mascagni, P. (Carsen)
Pagliacci / Cavalleria rusticana (DVD)
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Info |
Musikrichtung:
Oper Verismo
VÖ: 09.04.2021
(Naxos / Naxos / DVD / 2019, live / Best. Nr. 2.110670)
Gesamtspielzeit: 157:00
Internet:
Oper Amsterdam
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UNGLEICHE SCHWESTERN
Nicht nur, weil sie als Paradebeispiele und Wegbereiter des Verismo in der Oper gelten, sondern auch, weil sie kombiniert so schön ein abendfüllendes Programm ergeben, werden Mascagnis „Cavalleria rusticana“ und Leoncavallos „Pagliacci“ (Der Bajazzo) traditionell miteinander gekoppelt. Dabei haben die Geschichten inhaltlich nicht viel gemein, sieht man von der Eifersucht als Triebfeder des dramatischen Geschehens ab. Ja, selbst musikalisch liegen zwischen Mascagnis eher grob gestricktem Melodram und Leoncavallos abgründigem, dramatisch und kompositorisch geschickt gebautem Stück eigentlich Welten. Keine leichte Aufgabe also für einen Regisseur, die ungleichen Schwestern zusammen zu zwingen, sofern man sich nicht mit süditalienischer Folklore begnügen möchte.
Robert Carsen hat sich bei seiner Inszenierung für die Niederländische Nationaloper dafür entschieden, den Aspekt des Meta-Theaters in den Vordergrund zu stellen. Dieser ist im „Pagliacci“ naturgemäß angelegt, wo die menschlichen Abgründe in einer fahrenden Theatertruppe das Geschehen bestimmen und es schließlich bei der Aufführung des Stücks-im-Stück zum realen Doppelmord auf offener Bühne kommt. Insofern ist es konsequent, dass Carsen die übliche (und musikhistorisch korrekte) Reihenfolge der beiden Einakter umdreht und mit dem Bajazzo beginnt. Er trennt die Werke zudem nicht durch die übliche Pause, sondern lässt das eine Stück in das andere übergehen – da werden noch schnell die Leichen von der Bühne gezogen und die Darsteller klopfen sich anerkennend auf die Schulter und plötzlich findet man sich in der Theatergarderobe wieder, wo dann sogleich die Vierecks-Geschichte der „Cavalleria“ ihren Lauf nimmt. Das ist in der Bebilderung und im Hinblick auf die – im Instagram-Zeitalter hochaktuellen - Grundfragen „Was ist echt? Was ist gespielt? Wo endet das Theater und wo fängt das wahre Leben an?“ durchaus schlüssig. Mit Blick auf die Geschichte der „Cavalleria“ wirkt es indes etwas bemüht, wobei zuzugestehen ist, dass die hier verhandelten zwischenmenschlichen Verwicklungen durchaus vom ursprünglich bäuerlich-ländlichem Hintergrund losgelöst darstellbar sind.
Die Darstellung vollzieht sich hier in einem eher übersichtlich ausgestatteten, durch geschickte Spiegelung vergrößertem Bühnenraum, dessen übliche Grenzen Carsen schon dadurch verschwimmen lässt, dass Parkett, Orchestergraben und Bühne nahezu auf einer Ebene liegen, der Chor im „Pagliacci“ teils aus dem Parkett heraus agiert und die Bühne nicht durch einen festen Hintergrund abgeschlossen wird.
Beide Werke stehen und fallen mit ihren Protagonisten. Und was das angeht, ist diese Inszenierung wahrhaftig bemerkenswert: Brandon Jovanovich als Canio (Bajazzo) erinnert in Gestik, Mimik und Maske keineswegs zufällig an Joaquin Phoenix´ Joker. Und er zieht diese Parallele auch in die stimmliche Darstellung hinüber. Dieser Bajazzo hat wenig Opernhaftes, aber sehr viel Menschliches an sich, die Qualen seiner Eifersucht im legendären „Vesti la giubba“ bilden sich unmittelbar ab. Jovanovich scheut dementsprechend nicht davor zurück, den Ton auch einmal „hässlich“ und rauh werden zu lassen. Das ist musikalisch und darstellerisch von packender Intensität und endlich einmal Verismo im eigentlichen Sinne des Wortes.
Seinen Nebenbuhler Silvio gibt Mattia Olivieri mit viriler Präsenz, während Ailyn Pérez sich in der Rolle der umschwärmten Nedda auch sängerisch ein wenig zu sehr auf das Komödiantische verlässt und die Doppelbödigkeit der Figur zwischen mädchenhafter Koketterie und grausamer femme fatale damit unausgeleuchtet bleibt.
Die „Cavalleria“ lebt von der brillanten, so anrührenden wie stimmgewaltigen Darstellung der hintergangenen Santuzza durch die Mezzosopranistin Anita Rachvelishvili. Wohl selten hat man diese Figur derart präsent in ihrer Zerrissenheit, ihrem Leiden am Verlassensein und ihrer Hilflosigkeit (die sie letztlich zur indirekten Rache greifen lässt) erleben dürfen. Elena Zilio ist eine kühl beherrschte Mama Lucia, Rihab Chaieb eine laszive Lola und Brian Jagde ein grundaggressiver toxisch-männlicher Turiddu. Stimmlich kompromisslos kraftvoll verkörpert Roman Burdenkeo dessen Gegenspieler Alfio.
Der junge schweizerische Dirigent Lorenzo Viotti (Sohn des bekannten Operndirigenten Marcello Viotti) führt das Netherlands Philharmonic Orchestra in eher konventioneller Weise, legatobetont, streicher-dunkel timbriert und effektstark. Gerade Leoncavallos Orchestersatz würde aber auch eine pointiertere Interpretation vertragen und Mascagnis unverwüstliches Intermezzo würde auch weniger buttrig gut bekommen. Insgesamt aber liefern das Orchester und die in Maximalstärke angetretenen Chöre der Amsterdamer Oper eine mehr als nur solide Leistung ab und runden dieses Opernspektakel zu einer sehen- und hörenswerten, zudem höchst professionell gefilmten Aufführung von internationalem Rang.
Sven Kerkhoff
Besetzung |
Prologue, Roman Burdenko
Nedda, Ailyn Pérez
Canio, Brandon Jovanovich
Tonio, Roman Burdenko
Peppe, Marco Ciaponi
Silvio, Roman Burdenko
Santuzza, Anita Rachvelishvili
Lola, Rihab Chaieb
Turiddu, Brian Jagde
Alfio, Roman Burdenko
Lucia, Elena Zilio
Netherlands Philharmonic Orchestra
Dutch National Opera Chorus
Nieuw Amsterdams Kinderkoor
Lorenzo Viotti: Ltg.
Robert Carsen: Regie
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