Angelica

Angelica


Info
Musikrichtung: Melodic Rock

VÖ: 2017 (1989)

(EM Label & Distro)

Gesamtspielzeit: 43:02

Internet:

http://www.denniscameron.com
http://www.facebook.com/Angelicatheband/


Ein bissel seltsam ist’s schon, dass von dem halben Dutzend Bands namens Angelica bei MAS bisher ausschließlich das schwedische Projekt um die Sängerin Angelica Rylin in der CD-Review-Datenbank vorkommt (Norbert fand deren 2013er Album Thrive überwiegend eher mäßig begeisternd), die legendäre gottesfürchtige Rockband dieses Namens bisher aber nicht. Der vom Rezensenten unlängst „erbeutete“ Re-Release des selbstbetitelten Debütalbums jener Formation bietet einen guten Anlaß, diese Lücke zumindest partiell zu füllen.
Die Formulierung „zumindest partiell“ liegt darin begründet, dass Angelica innerhalb von vier Jahren ebenso viele Alben veröffentlichten, bevor sie so plötzlich wieder aus der Szene verschwanden, wie sie aufgetaucht waren – und es gab bisher auch keine Reunion, zumindest keine offizielle und auf Dauer angelegte mit neuen Alben, Konzerten etc., wenngleich in den letzten Jahren gleich mehrere Re-Releases herausgekommen sind. Das Debüt ist in der Form, in der es jetzt hier im CD-Player liegt, ein 2017 erschienener mexikanischer Re-Release und trägt die Katalognummer 001 von EM Label & Distro, bei denen es sich allerdings keineswegs um Neulinge handelt – sie waren früher als Exhort Metal aktiv und bilden auch den Kern der mexikanischen gottesfürchtigen Black-Metal-Szene, nämlich Hortor und deren Myriaden von Nebenprojekten. Zwischenzeitlich ist bei EM eine Anzahl weiterer Releases hinzugekommen, dem Vernehmen nach auch mit etwas üppigerer Ausstattung und besserer optischer Qualität als hier bei „Angelica“: Beim Bookletdruck paßten die Platten offenbar nicht ganz genau aufeinander, und die beiden Innenseiten sowie die Bookletrückseite machen den Eindruck, als ob sie einfach von einem alten Werk abgescannt worden sind. Bonustracks gibt es keine, so dass niemand, der das Original bereits besitzt, ein zweites Mal zugreifen muß, und auch die Aufnahme scheint nicht nachbearbeitet, sondern 1:1 übernommen worden zu sein.
Hochinteressant ist die CD hingegen natürlich für Menschen, die dieses Werk noch nicht besitzen, aber auf hochklassigen Melodic Rock mit leichter Metalkante stehen – oder die ihre Rob-Rock-Sammlung komplett halten wollen. Der etatmäßige Sänger Andy Lyon, zusammen mit Gitarrist und Bandkopf Dennis Cameron auch für das Songwriting zuständig, hatte dem Vernehmen nach die Vorbereitungen auf den Studioaufenthalt etwas auf die leichte Schulter genommen und bekam, als es dann ernst wurde, keine vernünftige Gesangsleistung hin, so dass er letztlich seine Stimme verlor, als ihn der Produzent der Vocals wieder und wieder zu Höchstleistungen anzutreiben versuchte. Naheliegendste Lösung wäre gewesen, dass besagter Produzent der Vocals kurzerhand zum Sänger befördert worden wäre – dabei handelte es sich nämlich um niemand Geringeren als Ken Tamplin, und was der gesanglich draufhatte, konnte er in den Jahren zuvor bereits mehrfach beweisen. Tamplin schlug Cameron für die elf zu besingenden Songs (der die heilige Zwölfzahl ergänzende, „Ahh!“, ist ein Instrumentalstück) zwei Ersatzkandidaten vor: Bob Carlisle oder Rob Rock. Cameron, der das von letzterem eingesungene Album Project: Driver von M.A.R.S. schätzte, entschied sich für Rock (der Mann heißt bürgerlich wirklich so!), auch wenn einige Songs leicht umarrangiert werden mußten, da Rock eine höhere Stimme besitzt als Lyon. Der Ausnahmevokalist soll für die Aufnahmen gerade mal drei Tage benötigt haben, obwohl er das Material vorher nicht kannte und, als er ins Studio gebeten wurde, gerade von anstrengenden Sessions mit seiner eigenen Band, die gleichfalls Driver benannt worden war, kam. Die Umstände hört man dem Material jedenfalls nirgendwo an – kennt man sie nicht, käme man nie auf die Idee, dass hier eigentlich ein anderer Sänger mit anderer Stimmlage hätte singen sollen (einzig die Strophen von „S.O.S.“ hinterlassen einen eigenartigen Eindruck, die Bridge und der Refrain passen dann aber wieder exakt), und Rock hinterläßt mit seiner hohen und doch kraftvollen, jugendlich frischen Stimme einen ausgesprochen positiven Eindruck. Allerdings blieb diese Scheibe das einzige von ihm eingesungene Angelica-Werk – auf den drei anderen Alben der grundsätzlich eher Projekt- als Bandcharakter aufweisenden Formation hörte man dann Jerome Mazza, Drew Baca und schließlich als Co-Sänger des letztgenannten auf dem finalen, gerüchteweise die Qualität der drei anderen nicht erreichenden 1992er Werk Time Is All It Takes Cameron selbst, während Lyon letztlich auf keinem der offiziellen Alben zu hören ist, obwohl man ihn auf dem Bandfoto auf der Bookletrückseite des Re-Releases noch sieht – ob sich auf der 1998 posthum veröffentlichten Raritäten-Compilation Classic Archives Aufnahmen mit ihm befinden, vermag der Rezensent mangels Besitzes derselben nicht zu sagen. Es gibt zwei frühe Demos mit ihm (und gerüchteweise ein noch früheres mit Graham Turonzo am Mikrofon), und solches Material wäre auf einer derartigen Raritätensammlung sicher gut aufgehoben (man hätte es freilich auch als Bonustracks auf dem Re-Release verbraten können, der mit 43 Minuten durchaus nicht in die Nähe der CD-Kapazitätsgrenze kommt ...). Allerdings ist zwischenzeitlich bei Girder Music ein Album namens „The Demo Sessions“ erschienen, das die neun Songs der beiden Demos mit Lyon enthält. Komplett unbekanntes Songmaterial versteckt sich freilich nicht darunter – alle neun Songs fanden letztlich auch den Weg aufs Debüt, aber eben mit Rocks Vocals und den angesprochenen diversen Arrangementänderungen. Übrigens interpretiert Rob Rock von den elf mit Gesang ausgestatteten Debütsongs nur zehn: Für „Face To Face“ (das ist keiner der neun Lyon-Demosongs) hatte Tamplin eine Pilotspur eingesungen, an der sich Rock orientieren sollte, aber Cameron gefiel diese Pilotspur so gut, dass sie letztlich für das Album übernommen wurde – und auch das paßt wie die berühmte Faust aufs Auge.
Bleibt die Frage, was wir in den zwölf Songs musikalisch geboten bekommen. Liebhaber des Guardian-Debüts First Watch, auf dem noch nicht Jamie Rowe sang, sondern Paul Cawley, könnten hier eine sehr positive Überraschung erleben, denn die Parallelen sind überdeutlich. Das Angelica-Werk ist im gleichen Jahr veröffentlicht worden, wobei wiederum Guardian (noch als Gardian und ganz früher als Fusion) auch schon einige Jahre in der Szene unterwegs waren, eine gegenseitige Beeinflussung, in welche Richtung auch immer, also nicht ausgeschlossen werden kann, wenngleich beide Acts nicht gerade nebeneinander siedelten – Guardian in Kalifornien, also an der US-Westküste, Angelica hingegen im kanadischen Ontario. Aber die Grundausrichtung ist identisch und weist zudem einige Parallelen zu Stryper auf, wenngleich nicht in Hinsicht auf deren Hang zu doppelstimmigen Leads, denn Cameron ist der einzige Gitarrist bei Angelica. Trotzdem ist das Material klar auf seine Künste zugeschnitten, wobei er sich aber in den Dienst der Mannschaft stellt und nur in den Soli sowie im genannten Instrumental richtig vom Leder zieht und beweist, dass er zu den Großen seines Faches zählt. Auch als Songwriter macht er eine gute Figur, wobei gerade im Direktvergleich mit Stryper aber ein klein wenig die Fähigkeit, richtige Hits zu schreiben, die sich wie mit Widerhaken im Ohr festkrallen, fehlt: Die Refrains schleichen sich zwar Schritt für Schritt auch ins Ohr, aber sie brauchen dafür eine ganze Menge Zeit, und die hatte eigentlich schon 1989 niemand mehr. Tamplin, der auch die Backingvocals verantwortet, schuf dafür freilich interessante Chorarrangements, die ebenfalls an die auf dem Guardian-Debüt erinnern. Das Material ist in kompakter radiofreundlicher Weise strukturiert – bis auf den Opener „There’s Only One Hero“ schafft es kein Song über die Vierminutenmarke, und großartige Experimente bzw. Abweichungen von der klassischen Melodic-Rock-Formel gibt es auch nicht, wobei aber auch kein Bedarf an solchen besteht. Innerhalb des Genres loten Angelica die Grenzen komplett aus, kratzen mehrfach an der Melodic-Metal-Marke, verzichten interessanterweise auf eine Ballade und packen seltsamerweise mit besagtem Opener einen ziemlich untypischen Song an den Anfang: Hier hören wir eher zurückhaltend-relaxten AOR, der stärker an Petra als an Stryper erinnert. Wollten Angelica einen Wolf in den Schafspelz stecken, der sich erst mit dem nach gleichfalls zurückhaltendem Beginn das Tempo deutlich anziehenden zweiten Song „Are You Satisfied“ zu erkennen gibt, wenn der potentielle Käufer das Werk schon erworben hat, nachdem er im Plattenladen nur in den Opener reingehört hat (und Petra hatten damals noch viele, viele Fans)? Die Beschreibung des Demo-Samplers auf der Labelhomepage liefert eine interessante Geschichte über den Hintergrund dieses Songs, die hier der Einfachheit halber komplett zitiert werden soll: „‚There’s Only One Hero‘ was recorded much earlier on a demo that was never used to shop to record labels and is not included here on THE DEMO SESSIONS. However, it was one of the very first Angelica songs written by Dennis after he became a Christian. There’s a funny story that about the influence to the music of ‚There’s Only One Hero‘. Dennis’s mother asked him ‚Can you write something that doesn’t have all that „Chug-Chug-Chug” on the guitar‘ so Dennis wrote the music for this song with that in mind.“ Besagtes frühes Demo könnte dann also tatsächlich das mit Graham Turonzo sein ...
Egal wie – die 43 Minuten Musik des Angelica-Debüts, die sich hinter einem simplen, aber durchaus ästhetischen Cover (das goldglänzende attraktive Bandlogo auf schwarzem Grund – also problemlos T-Shirt-tauglich) verbergen, sollten Genrefreunde ohne Probleme zu überzeugen wissen, wenn man eben nicht zwingend auf große Hits erpicht ist, die man wie beschrieben hier nicht findet. Dafür stimmt das Gesamtbild nahezu uneingeschränkt positiv. Übrigens gibt es auch diese Scheibe als 2019er Re-Release bei Girder Music, ohne Bonustracks, aber remastert und mit Liner Notes versehen, sagt das allwissende Netz. Allerdings ist dieser Re-Release zumindest direkt beim Label zum Rezensionszeitpunkt schon wieder ausverkauft, im Gegensatz zum Demosampler, den es noch gibt – bleibt also wohl doch nur die Suche nach der mexikanischen Scheibe ...



Roland Ludwig



Trackliste
1There‘s Only One Hero4:05
2 Are You Satisfied3:30
3 I Believe3:45
4 Danger Zone3:42
5 Shine On Me3:05
6 Only A Man3:40
7 One Step At A Time3:31
8 Will I Ever Learn3:20
9 Take Me3:32
10 Ahh!3:00
11 S.O.S.3:50
12 Face To Face3:23
Besetzung

Rob Rock (Voc)
Dennis Cameron (Git)
Robert Pallen (B)
Scott Ernest (Dr)



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