Blind Guardian Twilight Orchestra
Legacy Of The Dark Lands
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In den Mittneunzigern gaben Blind Guardian bekannt, an einem Orchesteralbum zu arbeiten, und sie wurden fortan in praktisch jedem Interview gefragt, wie es um dessen Fortschritt stünde. Lange Zeit ging es nur schleppend vorwärts, und letztlich kam es zu einer kompletten Umkonzeptionierung, indem nicht mehr die Tolkien-Welt als inhaltlicher Rahmen für das Konzept dienen sollte, sondern „Die dunklen Lande“ von Markus Heitz, als dessen Fortsetzung das Werk gedacht ist. Interessanterweise hatten die Aufnahmen zum Zeitpunkt der Umkonzeptionierung aber bereits begonnen und zogen sich letztlich noch ewig hin, so dass der Schaffenszeitraum den von Guns n‘ Roses‘ Chinese Democracy, das bisher als Running Gag für ein scheinbar nie fertigwerdendes Album herhalten mußte, locker übertraf. Irgendwann war aber tatsächlich ein Ende erreicht, und Legacy Of The Dark Lands liegt nun vor, in einer Spezialedition als Doppel-CD, wie man das in ähnlicher Form von diversen Nightwish-Alben kennt: CD 1 enthält das Werk in Komplettform, CD 2 eine reine Instrumentalfassung.
Als Bandnamen wählte man Blind Guardian Twilight Orchestra, um es von den regulären Bandalben abzuheben, da nur die Hälfte der Bandmitglieder beteiligt war und gar nur ein Viertel zu hören ist: Hans Kürsch singt, André Olbrich hat komponiert – Marcus Siepen und Frederik Ehmke hingegen bleiben komplett außen vor und haben damit den Vorteil, nicht mit einem der größtmöglichen musikalischen Flops in Verbindung gebracht zu werden.
Schaut man sich das reguläre Bandschaffen von Blind Guardian an, fällt auf, dass sie 1995 mit Imaginations From The Other Side den vermutlichen Gipfelpunkt der Schnittmenge aus metallischer Energie und anspruchsvollen musikalischen Strukturen erreicht hatten und damit das halbe Jahrzehnt, in denen sie den Maßstab im Sektor des melodischen Speed Metals darstellten, mit einem Geniestreich abschlossen. Schon Nightfall In Middle-Earth schoß in seinem Bemühen nach Fortschritt um jeden Preis gelegentlich übers Ziel hinaus und war zudem ziemlich verwaschen produziert – und der Versuch, schauspielerische Elemente in Gestalt von Erzählpassagen einzubauen, animiert bis heute eher zum Betätigen der Skip-Taste. Zu diesem Zeitpunkt lief die Arbeit am Orchesteralbum schon, und wenn man dieses nun heute hört, so muß man mit Entsetzen feststellen, dass der Irrweg konsequent weitergegangen worden ist. Auf den Alben ab dem 2002er A Night At The Opera hatten Blind Guardian immer stärker auf das, was sie für progressiv hielten, gesetzt und die Pfade klassischen Songwritings verlassen, was zu einer hochgradigen Austauschbarkeit vieler Passagen führte, da sie problemlos an alle möglichen und unmöglichen Stellen verschiedenster Songs passen würden, was einen Großteil der Songs ihre Individualität kostete – ein Problem, das bis einschließlich Beyond The Red Mirror jedes Blind-Guardian-Album des neuen Jahrtausends prägte und nur sehr selten noch wirklich große und außerhalb der Refrains wiedererkennbare Songs erzeugte. Irgendwann in den Neunzigern hatte Kürsch in einem Interview die treffende Selbsteinschätzung gegeben, dass alle Bandmitglieder außer dem damaligen Drummer Thomen Stauch an ihren Instrumenten allenfalls zur oberen Mittelklasse gehören würden. Diese realistische Selbsteinschätzung ist offenkundig in den Folgejahrzehnten einer akuten Selbsttäuschung gewichen, zumindest was den kompositorischen Output angeht.
Man ahnt nach diesen Worten bereits, was einen auf Legacy Of The Dark Lands erwartet. Die 75 Minuten gliedern sich in zwölf Orchesternummern und ebensoviele Zwischenspiele, letztere im Regelfall mit Narrationen ausgestattet. Instrumentell hören wir ausschließlich das im Booklet so genannte Filmharmonic Orchestra aus Prag, neben Kürschs Gesänge treten verschiedenste Chorelemente, und dazu kommen noch diverse Effekte vom heulenden Wind bis zum Waffengeklirr. Mit Metal hat das Ganze also nicht im Geringsten etwas zu tun – statt dessen begeben sich Olbrich/Kürsch auf ein Territorium, dem sie offenkundig nicht gewachsen sind und wo der Fakt, dass nicht sie selbst der Maßstab aller Dinge sind (diese Zeiten sind auch im Melodic Speed Metal wie erwähnt seit 1998 vorbei), als ein Grundproblem massiv ins Gewicht fällt. Legacy Of The Dark Lands steht vom Genre her irgendwo zwischen Orchesterlied und Oratorium, und da tauchen als Referenzgrößen plötzlich Menschen wie Gustav Mahler oder Friedrich Schneider auf, freilich nur ganz hinten am Horizont und gaaanz weit von dem entfernt, was hier zu hören ist. Begreift man das Werk im Sinne eines Filmsoundtracks (für einen nichtexistierenden Film) oder eines Hörspiels, ist die Lage nicht besser, da Hans Zimmer oder John Williams meilenweit voraus sind, von Pionieren wie Erich Wolfgang Korngold oder Eduard Künneke ganz zu schweigen. Selbst ein in seinem Stammareal genialer Komponist wie Tuomas Holopainen hat Federn lassen müssen, als er sich mit Music Inspired By The Life And Times Of Scrooge und „All The Works Of Nature Which Adorn The World“ in die Gefilde von Oratorium/Musical/Quasi-Soundtrack bzw. Orchester-Ambient vorwagte und feststellen mußte, dass der dortige Standard ein ganz anderer ist. Die Fallhöhe von Olbrich/Kürsch ist noch größer, obwohl man bei der „1618 Ouverture“ noch hofft und tatsächlich die Andeutung eines Hauptthemas entdeckt, mit dem man weiterarbeiten könnte. Leider geschieht ebenjenes nicht, und die 12 Nummern stellen lediglich so etwas wie neuzeitliche Blind-Guardian-Song-Stangenware dar, nur halt ohne Metal-Zutaten. Sinnvolle Ausnutzung der dynamischen Möglichkeiten eines Orchesters ist ebenso ein Fremdwort wie ein Spannungsbogen entweder innerhalb eines Songs oder über mehrere Songs hinweg, von Themenvariation oder -durchführung zu schweigen. Statt dessen tröten speziell die Posaunen, aber auch die Trompeten nahezu jeden Song zu, im Hintergrund donnert’s und kracht’s, ohne dass man weiß, warum (Dramatik entsteht jedenfalls dadurch nicht, weil’s eben nahezu überall kracht), und irgendwas Markantes, das einem bei einem Versuch der Erschließung zu Hilfe kommen könnte, bleibt Mangelware. Einzelne Einfälle wie das einleitende Thema von „The Great Ordeal“ (bei dem man nur höllisch aufpassen muß, darauf nicht den Text des bekannten Carols „Joy To The World“ mitzusingen zu versuchen) oder das folkige Thema in „Point Of No Return“ erreichen durchaus die gewohnte Blind-Guardian-Schaffenshöhe und hätten bei anderer Verarbeitung reizvolle Ergebnisse zeitigen können, verpuffen in dieser Umgebung hier aber völlig. Schade um die viele Arbeit, die alle Beteiligten (und das sind Hunderte) hier reingesteckt haben – dass alles sauber eingespielt ist, davon konnte man ja von vornherein ausgehen, aber das rettet Legacy Of The Dark Lands natürlich nicht vor dem künstlerischen Ruin. Selten klafften Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie auf dieser restlos überambitionierten Scheibe, und die rein instrumentale zweite CD, die bei Nightwish der Erschließung des vielschichtigen Materials durchaus half, langweilt hier noch stärker, weil auch noch die wenigstens ansatzweise Auflockerung durch die Narrationen fehlt und damit endgültig ein unerschließbarer Klotz vor dem Hörer steht.
So stellt Legacy Of The Dark Lands leider nur vergeudete Lebenszeit dar – und zwar ziemlich viel davon. Den einen Gnadenpunkt gibt es für den strukturellen Umstand, dass Blind Guardian von bombastischen Orchesterarrangements nach Fertigstellung dieser Scheibe erstmal genug hatten und ihr neues Album The God Machine wieder basischer anlegen wollten. Ob sie es wirklich getan haben und, falls ja, ob’s geholfen hat, auch wieder zu alten songwriterischen Tugenden zurückzukehren, kann der Rezensent mangels Besitzes dieser Scheibe noch nicht sagen.
Roland Ludwig
Trackliste |
CD 1
1. 1618 Ouverture (02:38)
2. The Gathering (01:23)
3. War Feeds War (05:05)
4. Comets And Prophecies (01:13)
5. Dark Cloud’s Rising (05:12)
6. The Ritual (00:52)
7. In The Underworld (05:50)
8. A Secret Society (00:25)
9. The Great Ordeal (04:55)
10. Bez (00:22)
11. In The Red Dwarf’s Tower (07:04)
12. Into The Battle (00:27)
13. Treason (04:21)
14. Between The Realms (00:49)
15. Point Of No Return (06:37)
16. The White Horseman (00:50)
17. Nephilim (05:06)
18. Trial And Coronation (00:27)
19. Harvester Of Souls (07:17)
20. Conquest Is Over (01:21)
21. This Storm (04:47)
22. The Great Assault (00:28)
23. Beyond The Wall (07:08)
24. A New Beginning (00:47)
CD 2
1. 1618 Ouverture (02:59)
2. War Feeds War (05:10)
3. Dark Cloud’s Rising (05:16)
4. In The Underworld (05:54)
5. The Great Ordeal (05:02)
6. In The Red Dwarf’s Tower (07:08)
7. Treason (04:27)
8. Point Of No Return (06:38)
9. Nephilim (05:08)
10. Harvester Of Souls (07:21)
11. This Storm (04:49)
12. Beyond The Wall (07:11) |
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Besetzung |
Hans Kürsch (Voc)
Filmharmonic Orchestra Prague
Diverse Chöre
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