Musik an sich


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Das Hippie Musical Hair als Nummernrevue




Info
Künstler: Hair

Zeit: 11.03.2016

Ort: Admiralspalast, Berlin

Veranstalter: Concertbüro Zahlmann

Fotograf: Frank Serr


Hair, das ist nicht nur ein Musical und ein Film - Hair ist noch stärker als Woodstock Ausdruck einer ganzen Epoche. Denn dieses Musical war mehr als Musik. Es war der Sprengsatz, der die Mauern einer ganzen Kultur zwar nicht zum Einbruch brachte, aber breite Breschen in sie hineinschlug. In Politik, Sexualität, Spiritualität und im gesamten Miteinander wurden neue Paradigmen benannt, die eine völlig neue Gesellschaft „im Zeichen des Wassermanns“ beschworen. Ein kulturrevolutionäres Werk mit deutlich politischer Dimension! Kann man so etwas 2016 noch adäquat zur Aufführung bringen?

Um es kurz zu sagen: Andrew Carn versucht das in seiner Inszenierung erst gar nicht. Am Ende ist das ein Gewinn. Am Anfang muss man sich – insbesondere, wenn man von der Film-Version her kommt – erst einmal umstellen. Im Film begleitet man Claude H. Bukowski auf seinem Weg aus dem uramerikanischen patriotischen Farmland zum Rekrutierungsbüro in New York, wo er auf die Hippie-Kommune um George Berger trifft. Und man kann regelrecht miterleben, wie er mit erstaunt aufgerissenen Augen zwischen Neugier und Widerwillen vor dem steht, was er dort erlebt und sich dann langsam immer mehr auf das Leben der Hippies einlässt, seinen ersten Joint raucht, Sex hat, fröhliche lebensbejahende Musik hört und ein lautes Nein zu Militär, Vietnam und kurzen Haaren vernimmt.

1968 (Musical) und 1972 (Film) befand sich ein guter Teil des Publikums in einer ähnlichen Situation wie Claude Bukowski. Was da auf Bühne und Leinwand zu sehen war, war ein Skandal, den man je nach Veranlagung empört oder mit Begeisterung zur Kenntnis nahm. Auf diesen Effekt kann Carn 2016 nicht mehr setzen. Zum einen weiß jeder was ihn erwartet; zum anderen gehören heute gemeinschaftliches Leben, pazifistischer Protest, Patchworkreligiosität und freudig gelebte Sexualität eher zum Curriculum des Ethik- und Religionsunterrichtes, das die aussterbende Generation mittlerweile nicht mehr an die Kinder, sondern an die Enkel weiter geben will, als zu einer Gegenkultur.

Carn schmeißt daher den konservativen Gegenpart völlig aus dem Programm. Wir sind schon vor(!) Beginn der Aufführung mitten in der Kommune. Denn die Schauspieler tummeln sich, während das Publikum seine Plätze einnimmt, im Parkett und begrüßen die Gäste oft mit viel Körperkontakt. Hippies eben! Wenn dann die Show beginnt, kann der, der den Film nicht kennt, gar nicht auf die Idee kommen, dass Claude einmal kein Teil der Kommune gewesen ist. Abgesehen von ein paar Peace-Zeichen ist auch von Politik nicht die Rede. Carn macht nichts weiter, als... Oder vielleicht besser: Carn konzentriert sich darauf die Musik zu präsentieren. Die englisch gesprochenen Zwischendialoge dürften bei einem großen Teil des Publikums sowieso durch den Rost gefallen sein. Es befand sich zu geschätzten drei Vierteln in einem Alter, das es möglich macht, dass es den Film bereits bei der Premiere gesehen hat. Im Grunde war das Ganze kein Musical, sondern ein Live-Konzert mit der Musik von Hair. Im Prinzip eine gute Idee! Hätte man sie konsequent verfolgt, hätte man der Band etwas Scheinwerferlicht zugestehen sollen.

Die Bühne und das Ensemble in einer für das Pressefoto gestellten Pose

Auf ein Bühnenbild und Requisiten wurde weitgehend verzichtet. Braucht man auch nicht! Die in Hippiegewändern durcheinander tobenden singenden Tänzer sind ihr eigenes Bühnenbild. Und das ist überzeugend. Perfekt wirkt die Choreographie nicht. Manchmal fragt man sich, ob das ein gut eingespieltes Schülerensemble nicht auch hinbekommen würde. Aber gerade deshalb wirkt sie besonders authentisch. Hippies und Perfektion – was für ein Widerspruch. Ich hatte den Eindruck, dass nur der Rahmen der Choreographie fest stand und den Ensemblemitgliedern viel Freiraum gelassen wurde zu improvisieren.

Letztlich hat Carn damit das erreicht, was möglich ist: eine Reise in eine mittlerweile romantisch verklärte Vergangenheit, die für einen großen Teil des Publikum Teil des eigenen Lebens war. Dafür: Chapeau!

Aber: Ist das der angemessene Umgang mit einem kulturrevolutionären politischen Werk? Hair war ein Kommentar zur autoritären amerikanischen Politik, zu Vietnam und zur freien Liebe. Hätte man in der Zeit von Flüchtlingskrise und Syrienkrieg, von Trump und AfD nicht genau dazu Stellung nehmen müssen? Die Bühnenrückseite wurde von einem Videoscreen gebildet, der kaum genutzt wurde. Hätte man da nicht Bilder laufen lassen können? Vielleicht Vietnam-Fotos, die in Syrien-Bilder übergehen?

An einer Stelle hat Carn tatsächlich „aktualisiert“. Der „freie Sex“ wurde auf die Spitze getrieben. Ständig besprang ein Kerl ein Mädchen, oder einen anderen Kerl, wurden Masturbation oder Blowjobs angedeutet. MIt frei gelebter Sexualität hatte das aber nichts mehr zu tun. Das erschien eher als Provokation um der Provokation willen, die – vor allem da auch das schon lange keine Provokation mehr ist – eher als pubertäre Obszönität wirkte. Von einer selbstronischen Brechung, wie sie Stefan Herheim bei seiner Xerxes-Inszenierung gelang, war hier nichts zu bemerken.

Da freut man sich dann eher, dass ansonsten auf „Aktualisierungen“ verzichtet wurde.


Norbert von Fransecky



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