Musik an sich


Reviews
Telemann, G. Ph. (Jacobs)

Brockes-Passion


Info
Musikrichtung: Barock

VÖ: 13.03.2009

(harmonia mundi / harmonia mundi / 2 CD / DDD / 2008 / Best. Nr. HMC 902013.14)

Gesamtspielzeit: 139:51

Internet:

Akademie für Alte Musik Berlin

RIAS Kammerchor



PASSIONSOPER

Jene legendäre Zuhörerin, die bei Bachs Matthäus-Passion ausgerufen haben soll "Behüte Gott, ihr Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera-Comödie wäre!" kann Telemanns 1716 uraufgeführte Brockes-Passion nicht gekannt haben. Zu dieser hätte ihre Bemerkung nämlich weit besser gepasst. Schon der Zeitgenosse Johann Mattheson bezeichnete das Werk als "geistliche Oper", und tatsächlich war dieses Passionsoratorium, anders als Bachs Passionsvertonungen, nicht für den liturgischen Gebrauch oder überhaupt nur die Aufführung in der Kirche gedacht. Es ist Musik für das Konzertleben, was aber nicht heißt, dass die theologische Intention zurückträte. Im Gegenteil: Nach Text und Musik ist dies ein Werk, das den Zuhörer schonungslos in die Geschichte des Leidens Jesu und ihre heilgeschichtliche Dimension hineinziehen will. Es ist daher weniger auf betrachtende Reflexion des Geschehens angelegt, als auf eine drastische, die Nüchternheit des biblischen Berichts weit hinter sich lassende Schilderung. Dabei wechseln der Vortrag des Evangelisten (in freier Nachdichtung der biblischen Vorlage) und illustrierende Arien der Gläubigen Seele bzw. Tochter Zion einander ab. René Jacobs fühlt sich, wie er in einem Interview bekennt, durch das im Text beschworene, geradezu in Strömen fließende Blut an Mel Gibsons Film "Die Passion Christi" erinnert und tatsächlich ist diese Assoziation nahezu unausweichlich. Die Idee jedenfalls ist in beiden Fällen dieselbe.

Und sie war zu Beginn des 18. Jahrhunderts ungemein populär, wie die ungewöhnlich zahlreichen Vertonungen des von Barthold Heinrichs Brockes stammenden Textes belegen.
Unter ihnen nun wiederum ragt die Vertonung durch Georg Philipp Telemann turmhoch empor. Wie kaum ein anderer greift er ungehemmt zu opernhaften, musikdramatischen Mitteln. Seine Musik ist höchst expressiv, wie gewohnt laut- und tonmalend, dazu von überbordendem Klangfarbenreichtum. Die Chromatik ist oft kühn bis experimentell, die Instrumentaleffekte sind teils verblüffend bizarr und die rhythmischen Brechungen drastisch. In schneller Folge wechseln die in den Arien vorgestellten Affekte einander ab, wobei das ganze Zugkraft nicht zuletzt durch einen weitgehenden Verzicht auf die herbgebrachte Form der Da Capo-Arie erhält. Auch der Einsatz von Turba-Chören, zu denen später auch Bach griff, verleiht dem Geschehen zusätzliche Dramatik. Dabei ist die Musik in ihrem Ausdruck wesentlich direkter und weniger subtil als die Passionen Bachs.

Ein barocker Hochkaräter also, der bei René Jacobs in bewährten und allerbesten Händen liegt, hat er sich doch schon früher erfolgreich mit dem Opernschaffen Telemanns vertraut gemacht. Dem Charakter des Werkes entsprechend hat Jacobs sich für Gesangssolisten entschieden, deren musikalische Heimat die Opernbühne ist. Das hört man ihrem Vortrag durchweg an. Hier schleicht sich kein falscher Andachtston ein, hier ist alles Drama, alles Ausdruck. Dass Donát Havár den Ton dabei manchmal zu kehlig ansetzt und Lydia Teuscher ihren Vortrag bei metallischer Stimmfärbung überspitzt, sind die einzig nennenswerten Kritikpunkte, die aber den positiven Gesamteindruck nicht nachhaltig trüben.

Die Akademie für Alte Musik lässt die zahlreichen Klangfarben lustvoll und delikat aufleuchten, musiziert dabei druckvoll und expressiv. Der RIAS Kammerchor tritt kraftvoll und stets punktgenau in Erscheinung.

Es ist die außerordentlich eindrucksvolle, Staunen machende Wiederentdeckung einer ganz anderen Art der Passionsmusik, die aller Beachtung wert ist.



Sven Kerkhoff



Trackliste
Brockes-Passion
"Der für die Sünde der Welt leidende und sterbende Jesus"
Passionsoratorium für Soli, Chor und Orchester, TWV 5:1
Besetzung

Brigitte Christensen, Lydia Teuscher: Sopran
Marie-Claude Chappuis: Mezzosopran
Donát Havár, Daniel Behle: Tenor
Johannes Weisser: Bariton

RIAS Kammerchor
Akademie für Alte Musik Berlin

René Jacobs: Leitung


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