Zwei Fälle für den Therapeuten: Die Robert-Schumann-Philharmonie spielt Rachmaninow und Walton
Zweimal große Spätromantik bietet das 4. Sinfoniekonzert der Robert-Schumann-Philharmonie, unterschiedlich genug, um Monotonie zu vermeiden, aber doch nahe genug beieinander, um die Sinnhaftigkeit der Kombination zu unterstreichen. Außerdem wurde der zweite Komponist ein Jahr nach der Uraufführung des ersten Werkes geboren, und dann gibt es da in beiden Fällen noch einen therapeutischen Effekt zu vermelden. Selbiges erstes Werk zählt zu den großen Hits der Solokonzertliteratur: das 2. Klavierkonzert c-Moll op. 18 von Sergej Rachmaninow, mit dem sich der Komponist aus einer Schaffenskrise befreite, das Werk folgerichtig seinem Arzt Nikolai Dahl widmend. Im eröffnenden Moderato spielt Martina Filjak die ersten Linien sehr distanziert, was auch in der Steigerung erhalten bleibt, allerdings dann erstmal dazu führt, dass die Tiefstreicherflächen ihr Spiel zudecken. Die Beteiligten brauchen also etwas, bis sie zueinanderfinden, und das große Gefühl im bedächtigen Seitenthema weist schon in die richtige Richtung, auch wenn etwa im Dialog von Klavier und Englischhorn immer noch einige Reserven offenbleiben. In den Tutti-Steigerungen sind sich auch noch nicht durchgehend alle einig, und gegen Blechwalzen hat die Pianistin immer noch keine Chance. So bleiben inmitten einer trotzdem immer noch guten Leistung die betörenden Momente der Schönheit in Richtung Satzschluß die großen Versprechen für die Zukunft, die auch Dirigent Diego Martin-Etxebarria in der knappen, knackigen und doch zurückhaltenden Schlußwendung bietet: Es steht eben Moderato über dem Satz. Der Hit innerhalb des Hits kommt an Position 2 – Motive aus dem Adagio sostenuto hat bekanntlich Eric Carmen in „All By Myself“ popularisiert, und vielleicht sitzt sogar manchem Hörer noch dessen Karel-Gott-Coverversion „Mein letztes Lied“ im Ohr. Wie auch immer: Die Beteiligten entwickeln eine weitgespannte ruhige Atmosphäre, in der die etwas hervortretenden melodieführenden Holzbläser speziell auffallen – da Filjak diese starke Akzentuierung aufnimmt und weiterspinnt, wird diese Ausprägung Absicht gewesen sein. In der Folge wird das Geschehen aber immer harmoniebedürftiger, ohne indes zu verflachen – hier beginnt sich die Klasse Filjaks immer stärker herauszuschälen. Die Kadenz nimmt sie wieder betonter und untermalt das Ganze in ihrem elfenbeinfarbigen Kleid mit schlangentanzähnlichen Bewegungen, ehe die Hochspannung am Ausgang zusammen mit der Flöte dem Hörer fast den Atem raubt, bis eine herunterfallende Garderobenmarke die Atmosphäre kurz zusammenbrechen läßt. Halb so wild – im Satzschluß gelingt dieses Hochspannungsmoment, in dem man kaum zu atmen wagt, noch einmal, diesmal ungestört. Im Allegro scherzando legt das Orchester zunächst prächtige Folkloreanklänge aufs Tablett, obwohl oder gerade weil der Dirigent in diesem Satz die Tempi überschaubar hält – auch hier spricht die Satzbezeichnung Bände, denn es steht eben nicht Presto drüber. Das dürfte auch ein Faktor sein, dass die Balance zwischen Solistin und Orchester deutlich besser funktioniert als im ersten Satz – aber nur einer der Faktoren: Alle agieren nunmehr sozusagen im gleichen Flow, was einerseits wieder atemberaubende zurückhaltende Dialoge ergibt (Klavier plus Fagott!), aber auch die geschickte Energieevozierung über einem Tuba-Orgelpunkt ermöglicht. Martin-Etxebarria manövriert die Beteiligten geschickt durch alle Stimmungswechsel, und dass man Filjak selbst in den schleppenden Bombast-Tutt jetzt immer noch klar und deutlich hört, erfreut das Herz des Hörers ebenso wie der knackige Schluß, nach dem die Pianistin offenbar immer noch viel überschüssige jugendliche Energie intus hat und quasi sofort aufspringt. Sie wird mit sehr viel Applaus belohnt und spielt eine Zugabe, die sich völlig von dem unterscheidet, was man in dieser Funktion sonst so hört: „Für Alina“ von Arvo Pärt, nach einem Forte-Akkord hochspannende Minimal Music entspinnend (in Pärts hiermit erfundenem Tintinnabuli-Stil) und nach einem Mezzoforte-Akkord die Spannung noch weiter hochtreibend, auf das Maximum, das möglich ist, bevor der Hörer tot vom Stuhl fällt, weil er nicht mehr atmen kann. Bei der Klasse dieses Stückes in der Interpretation der multilingualen, in Berlin lebenden Kroatin ist’s dann auch völlig egal, dass seine Auswahl vermutlich daraus resultiert, dass es auf ihrem jüngsten Soloalbum (welches in der Pause selbstredend zu erwerben ist und signiert werden kann) enthalten ist ... „Sinfonie Nr. 1 von Wilhelm Watten“ liest die Besucherin hinter dem Rezensenten ihrem Gatten kurz vor Beginn des zweiten Teils des Konzertes bei schon gedimmter Beleuchtung vor. „Vier Teile, und dann ist Schluß?“ antwortet der, offenbar mit ins Heft linsend. Nun, damit hat er recht, und der therapeutische Effekt bestand für William Walton, wie der Komponist bei Lichte betrachtet heißt, darin, dass er in den ersten drei Sätzen seiner Sinfonie eine problematische Beziehung samt Trennung aufarbeitete und erst nach deren Uraufführung auch noch einen vierten Satz hinzuschrieb, so dass wir seit 1935 hier tatsächlich die klassische Sinfonieform vor uns haben, auch von der Satzverteilung her. Also hinein ins Getümmel! Das Allegro assai beginnt zurückgenommen, aber zu schräg, um unheimlich zu sein – die Akzentuierung bestimmter Elemente weckt indes auch hier schon Interesse, ebenso wie die eigentümliche Tonsprache, wenngleich manches etwas gewöhnungsbedürftig anmutet. Eine klassische Dynamikentwicklung findet man hier freilich nicht, was bei dem Sujet vielleicht auch schwierig wäre – ein strahlendes Tutti etwa kommt förmlich aus dem Nichts, entpuppt sich aber als Strohfeuer, das bald großen fahlen Flächen weicht, später noch mehr Düsternis, die dramatisch geschickt gestaltet wird. Den großen Zusammenbruch muß man jedenfalls erstmal so hinkriegen und den anschließenden Hornchoral über Tuba-Grundierung erstmal so fies, wie die Chemnitzer es an diesem Abend schaffen. Auffällig ist aber auch (und das gestaltet Martin-Etxebarria mit offenkundig viel Wissen), dass sich der brutale Existentialismus nur aufs Zwischenmenschliche bezieht, nicht wie bei Schostakowitsch, an den man in einigen Momenten denkt, im Sinne von „Einer gegen den Diktator und dessen Apparat“. Und genau in diesem Sinne gestaltet der Dirigent das schleppende intensive Finale dann auch. Im Scherzo, einem Presto con malizia, verarbeitet der Komponist möglicherweise Streitszenen, also die Uneinigkeit zwischen den Protagonisten. Das ergibt eine kleinteilige Struktur, angedüstert und flirrend, mit schnellen Stimmungsschwankungen – nicht leicht umzusetzen, aber die Musiker schaffen das. Lange bleibt es bei Geplänkel, dessen Intensität dann zunimmt, und ein sehr markantes Paukenmotiv übernimmt immer wieder strukturelle Funktionen. Andererseits muß der Dirigent auch Waltons gekonntes Spiel mit der Monotonie meistern – offenbar dreht sich der Streit im Kreis, und auch dieser Eindruck kommt perfekt rüber. Im Andante con malinconia müssen die Instrumentalisten und der Dirigent einen anderen Spagat vollbringen: Lieblichkeit im Spiel, aber nicht im Tonfall. Oft steht da hübsche Kammermusik, aber die Pizzikato-Bässe zupfen nicht umsonst lauter absteigende Linien. Martin-Etxebarria hält auch das Tempo weit unten (nicht ganz weit – es steht nicht Adagio drüber), macht nötigenfalls auch größere Bögen nachvollziehbar und deutet die Finsternis im Tutti nur an, obwohl er sich bewegt wie eine Windmühle. Freilich führt die Entwicklung weiter in den Abgrund, der Dirigent holt sozusagen die Teerwalze heraus, bis dann doch ein friedliches Ende um die Ecke gebogen kommt: Die Protagonisten sind getrennt, aber nicht tot, und die Flöte darf über einem Streicherteppich schweben. Der Maestoso-Teil des Finales hängt fast attacca an, hat allerdings wenig mit althergebrachten Vorstellungen von „majestätisch“ zu tun, und auch der Hauptteil, ein Allegro brioso ed ardentemente, gebärdet sich lange kleinteilig und unentschlossen. Das ändert sich erst mit dem großen Fugenteil, der zielstrebiger wirkt, freilich trotzdem noch mit Überraschungen aufwartet und die großen staatstragenden Momente nur andeutet. Wie Martin-Etxebarria und die Robert-Schumann-Philharmonie die mehrminütige Hinleitung zum großen Ausbruch mit Gong gestalten, könnte in jedes Lehrbuch der Dynamikentwicklung aufgenommen werden – dass sich Gong und Pauken später klanglich im Wege stehen, dafür können sie ja nichts. Im Finale denkt man in den fiesen Momenten immer mal noch an Schostakowitsch, bekommt dann aber plötzlich Jazzmotivik geliefert, und der ganze letzte Teil kommt äußerst schleppend von der Bühne gerollt, auch wenn die drei Schlußakkorde keine große Katastrophe symbolisieren. „Schön ist anders“, meint eine Besucherin beim Hinausgehen und hat recht damit – aber Schönheit war hier auch nicht Sinn und Zweck der Sache, und der abermals intensive Applaus für eine starke Wiedergabe eines interessanten, wenngleich schwer verdaulichen Werkes ist daher hochverdient. Roland Ludwig |
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