Sacrosanct
Truth Is – What Is
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Nach dem Debütalbum Malleus Maleficarum trennten sich die Wege von Pestilence und Gitarrist Randy Meinhard, und letzterer rief mit Sacrosanct alsbald eine neue Band ins Leben, in die auch Marco Foddis als Schlagzeuger einstieg, der gleichfalls Pestilence entstiegen war. Mit Sänger Michael Lucarelli und Bassist Milan Nyitrai spielte die neue Formation ein Vier-Track-Demo namens The Die Is Cast ein, und Michael Cerrone kam als zweiter Gitarrist gerade noch rechtzeitig dazu, um wenigstens mit zwei Soli vertreten zu sein. Danach zog es Foddis allerdings zurück zu Pestilence, und auch Nyitrai räumte seinen Platz, so dass auf dem Debütalbum Truth Is – What Is mit Bassist Remco Nijkamp und Drummer Ronny Scholten eine neue Rhythmussektion zu hören war. Selbiges Album erschien 1990 bei No Remorse Records – natürlich nicht zu verwechseln mit dem heutigen rührigen griechischen Label gleichen Namens, sondern die etwas chaotische Firma von Ex-Metal-Hammer-Chefredakteur Charly Rinne, die unglücklicherweise nicht lange nach Veröffentlichung des Sacrosanct-Debüts vom Pleitegeier gefressen wurde, so dass selbst Virgin als Major-Vertrieb nicht entscheidend zur Verbreitung des Albums beitragen konnten. Während die Zugpferde Blind Guardian es allerdings schafften, in Zukunft direkt bei Virgin unterzuschlüpfen und ihren Status kontinuierlich auszubauen, und auch Heavens Gate einen neuen, fähigen Businesspartner fanden, gingen im Prinzip alle weiteren No-Remorse-Bands mehr oder weniger baden. Sacrosanct veröffentlichten bei 1MF Records, dem gleichfalls etwas chaotischen Label von Ex-Scanner-Sänger S.L. Coe, noch Recesses For The Depraved und das völlig unterschätzte Meisterwerk Tragic Intense, bevor sie aufgaben, und auch Meinhards Folgeband Submission kam nicht richtig aus den Startlöchern, so dass der Gitarrist für geraume Zeit völlig aus dem Kreis der aktiven Metalmusiker ausschied und erst 2018 wieder auf der Bildfläche erschien, Sacrosanct wiederbelebte, ein neues Album namens Necropolis herausbrachte und sich zudem um die remasterten Re-Releases der drei alten Platten kümmerte.
Der Rezensent hat sich das Schaffen der Band kurioserweise sozusagen rückwärts erschlossen, denn sein erstes Sacrosanct-Album war das 1993 erschienene Tragic Intense, das er 1994 erwarb und im gleichen Jahr zur Abschlußklassenfahrt in die Slowakei mitnahm, wo es mal im Tischtenniskeller gespielt wurde, aber nicht so große Begeisterung bei den überwiegend metalungeübten Mitspielern hervorrief – mit seinem einzigartigen düsteren Power Metal verlangt es allerdings auch gewisse Aufmerksamkeit und ist ziemlicher Spezialistenstoff, der einige Durchläufe braucht, um richtig zu zünden, sich dann allerdings als ein totales Meisterwerk mit etlichen Jahrhundertsongs entpuppt. Als nächstes fand Recesses For The Depraved Eingang in die Sammlung, und da spielten Sacrosanct noch klassischen Thrash mit gewisser progressiver Kante, aber auch einer gewissen grundsätzlichen Rauhigkeit. Truth Is – What Is schließlich stand 1995 mal als LP in einem Leipziger Second-Hand-Laden, aber der Erwerb unterblieb zugunsten der Hunting Time-LP von Anthem (das Budget reichte nur für eine der beiden Scheiben). Erst viele Jahre später begegnete dem Rezensenten das Werk wieder, erneut second hand, aber nun als CD (vermutlich eine gewisse Rarität, da wie erwähnt nicht viele Scheiben der Erstauflage in Umlauf kamen), und es wurde zu einem günstigen Preis erworben, landete aber auf dem großen Stapel der Ungehörten, wo es noch heute liegt. Was sich jetzt im Player befindet, ist der 2018er Re-Release von Truth Is – What Is, und der bietet neben den zehn Albumsongs als Bonustracks noch die vier vom The Die Is Cast (im gleichen Studio eingespielt, aber mit einem völlig anderen Soundgewand, das beispielsweise dem zum Zweitling eingestiegenen Bassisten Christian Colli deutlich besser gefiel als das des Debütalbums, wie man 2001 in einem Interview mit dem Metal-Rules-Magazin lesen konnte – auch im remasterten Zustand unterscheiden sich die beiden Klangbilder deutlich voneinander), so dass man die Entwicklung der Band in ihrem Jugendstadium gut nachvollziehen kann, denn drei der Demotracks wurden für das Album neu eingespielt, einzig das Intro „Prophecies“ verblieb sozusagen in der Schublade. Editorische Kuriosität: Der Song „The Die Is Cast“, also der Titeltrack des Demos, steht gar nicht auf dem Tape, wohl aber dann auf dem Album, zumindest auf der CD-Fassung (die LP enthielt nur acht der zehn CD-Tracks, außer „The Die Is Cast“ fehlt auch noch die Neufassung von „Injured“). So ausführlich und kenntnisreich auch die Liner Notes im Re-Release ausfallen – auf die Hintergründe dieser Kuriosität geht Björn Thorsten Jaschinski nicht ein, und so bleibt ohne weitere Informationen auch unbekannt, ob es überhaupt eine Demoeinspielung von dem Song gab, die dann nur – aus welchen Gründen auch immer – nicht mit auf das Tape gewandert ist, oder ob die Albumfassung die einzige des Songs ist. Das Booklet des Re-Releases enthält jedenfalls als Faksimile auf der letzten Doppelseite auch das Booklet des Demos, wo bereits erwähnt wird, dass die Band eine neue Rhythmussektion hat, wobei der Drummer offenbar so neu war, dass sich der damalige Materialzusammensteller in Eile nicht mal an dessen Nachnamen erinnern konnte und somit nur Ronny als Name vermerkt ist.
Musikalische Hauptattraktion ist naturgemäß aber das reguläre Albummaterial, und hier macht sich das Stilchamäleon Sacrosanct auch bei der Rückwärtserschließung bemerkbar: Alle drei Alben der Frühphase der Band klingen unterschiedlich. Auf Truth Is – What Is hören wir denjenigen Thrash-Substil, den man weiland mit dem musikhistorisch sich als unglücklich erweisenden Begriff Techno Thrash zu umschreiben pflegte – mit dem, was ab den Frühneunzigern als Techno in den Zappelbuden der halben Welt Einzug hielt, hatte der Sound von Sacrosanct und all den Artverwandten von Target bis Dyoxen natürlich nichts zu tun, und aus heutiger Sicht würde man wohl eher geneigt sein, von Progthrash zu sprechen, also einer spieltechnisch sehr anspruchsvollen Thrash-Variante mit sehr hoher vor allem rhythmischer Vielfalt und eher geringer Eingängigkeit. Wenn mal ein Außerirdischer landet und wissen will, wie die als Techno Thrash bezeichnete Musik klingt, wäre Truth Is – What Is als Rollenmodell ohne weiteres heranziehbar, denn hier bekommen wir nicht nur die prägenden Stilelemente, sondern auch die Vor- wie Nachteile quasi archetypisch vorgesetzt. Spielkulturell vor allem in der Gitarrenarbeit äußerst hochwertig und wahlweise kräftig oder filigran agierend, schrieben auch Sacrosanct keine Songs, die man sich schon nach vier- oder fünfmaligem Hören merken konnte – die Erschließung des Songmaterials dauert enorm lange, eingängige Passagen, an denen man sich entlanghangeln kann, sind Mangelware, und merkfähige Refrains gibt es auch kaum, wobei die Betonung auf „kaum“ liegt: „Execrated (They Will Be)“ oder „The Die Is Cast“ liefern diesbezüglich durchaus erste Ankerpunkte, und erstgenannter Song überrascht zudem noch mit einer längeren schönen, durch atmosphärische Keyboards untermalten Gitarrenpassage, die, wie wir nachbetrachtend wissen, schon eine ganz kleine Ahnung in Richtung des Drittwerks zuläßt, auch wenn das damals wohl selbst Meinhard noch nicht bewußt gewesen sein wird. Temposeitig ging das Quintett enorm vielfältig zu Werke, bot gleich im Opener „Dimension Of Violence“ filigrane Hochgeschwindigkeit, aber schon dort auch eine grundsätzliche Vielfalt an Breaks und Wendungen, die so manchen Hörer schlicht und einfach überfordert haben dürfte – und Zeit für die Erschließung eines Albums nehmen wollte bzw. konnte sich schon 1990 nur eine Minderheit der metallischen Anhänger. Drei Jahrzehnte später ist angesichts dessen, was uns zwischenzeitlich im Mathcore vorgesetzt worden ist, Truth Is – What Is schon wieder fast als anachronistisch einzustufen, aber im Gegensatz zu vielen der neuzeitlichen Komplexformationen zerschnippeln Sacrosanct den songwriterischen Faden nicht komplett und folgen althergebrachten Grundtugenden zumindest bis zu einem gewissen Grade, was dazu führt, dass vor allem die Individualität der Songs viel ausgeprägter ist als bei den Legionen von Jungspunden, die alle ihre Einfälle auf engstem Raum zu komprimieren müssen glauben und dadurch keiner Idee Raum zur Entfaltung geben. Das machen Sacrosanct grundlegend anders, und dieser Umstand hilft bei der Erschließung des Materials natürlich enorm, wenngleich auch aus heutiger Sicht natürlich immer noch Zeit vonnöten ist, viel Zeit sogar. Aber die lohnt sich definitiv.
Bleibt ein Problemfall, nämlich Michael Lucarelli am Mikrofon. Der Mann ist ein fähiger Thrash-Shouter und auch durchaus zu wenigstens einer gewissen klaren Artikulation in der Lage, aber mit dem, was ihm die Instrumentalisten an Vielfalt vorsetzen, kann er definitiv nicht mithalten. Von daher war die Entwicklung Sacrosancts hin zu etwas geradlinigeren und rauheren Thrash-Klängen auf dem zweiten Album ebenso folgerichtig wie die Trennung nach jenem Album – das Material von Tragic Intense wäre mit seiner Stimme schwer vorstellbar gewesen. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Lucarelli macht seine Sache auf Truth Is – What Is durchaus gut und zeigt schon auf dem Demo seine Fähigkeiten (das kurze kultige Death-Metal-Gebrüll in „Disputed Death“ wurde in der Albumversion weggelassen), aber man ertappt sich immer wieder bei der Vorstellung, was ein noch vielseitigerer Vokalist aus dem Material gemacht hätte. Das bleibt freilich Theorie – die Scheibe ist nun mal in dieser Form veröffentlicht worden, und Lucarelli gibt sich ja auch hörbar Mühe, der instrumentalen Vielfalt vokal wenigstens halbwegs zu entsprechen, und er schafft es zudem, dass das nicht irgendwie bemüht oder erzwungen wirkt. So rundet sich das Bild einer schon von Anfang an hochinteressanten Band, die irgendwie zu gut für die breite Masse war – und da die Originalscheiben kaum mal zu finden sind, bietet sich für eine nachgewachsene Fangeneration mit den Re-Releases eine willkommene Gelegenheit zum Kennenlernen, gerade auch für diejenigen, die Sacrosanct erst mit dem neuen Album Necropolis entdeckt haben. Zwar ist und bleibt Tragic Intense das beste der drei Frühwerke, aber auch Truth Is – What Is lohnt die Entdeckung durch den Anspruchsmetaller definitiv.
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | Dimension Of Violence | 3:55 |
2 | Execrated (They Will Be) | 5:19 |
3 | Skin To Skin | 4:27 |
4 | The Sickened Thrill | 5:16 |
5 | Terminal Suicide | 4:25 |
6 | Disputed Death | 3:38 |
7 | The Die Is Cast | 4:56 |
8 | Catalepsy | 4:09 |
9 | Injured | 3:26 |
10 | Truth Is - What Is | 7:15 |
11 | Prophecies (Demo) | 2:05 |
12 | The Sickened Thrill (Demo) | 5:19 |
13 | Injured (Demo) | 3:35 |
14 | Disputed Death (Demo) | 3:45 |
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Besetzung |
Michael Lucarelli (Voc)
Randy Meinhard (Git)
Michael Cerrone (Git)
Remco Nijkamp (B, 1-10)
Milan Nyitral (B, 11-14)
Ronny Scholten (Dr, 1-10)
Marco Foddis (Dr, 11-14)
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