Nicht nur ein Déjà-Vu: Wintersemesterkonzert des Leipziger Universitätsorchesters im Gewandhaus
Sachen gibt’s. Die Mentoren des Leipziger Universitätsorchesters, die auch die Probenarbeit unterstützen, spielen hauptamtlich im MDR Sinfonieorchester, und selbiges hat am 11.11.2017 im Großen Saal des Gewandhauses ein Violinkonzert von Sergej Prokofjew und eine Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch gespielt (siehe Rezension „Mitja I“ auf diesen Seiten). Zweieinhalb Monate später steht an gleicher Stelle das Wintersemesterkonzert des Leipziger Universitätsorchesters an, und was entdeckt der staunende Leser im Programm? Richtig, ein Violinkonzert von Prokofjew und eine Sinfonie von Schostakowitsch, wenngleich nicht das zweite respektive die Elfte wie weiland beim MDR, dafür aber die Fünfte, die nun wiederum das Gewandhausorchester kurze Zeit später an gleicher Stelle gespielt hatte (siehe „Mitja II“). Wie auch immer diese seltsame Konstellation nun zustandegekommen ist: An erster Stelle erklingt ein Werk, das der Rezensent bisher von keinem Orchester gehört hat: der Danzón No. 2 von Arturo Márquez, einem mexikanischen Gegenwartskomponisten. Für die Popularisierung dieses Stücks hat maßgeblich Gustavo Dudamel gesorgt, der es auf seiner 2007er Welttour mit dem venezolanischen Simón-Bolívar-Jugendorchester häufig aufführte – beim Gastspiel im Gewandhaus am 24. August besagten Jahres stand es allerdings nicht auf dem Programm, denn da erklangen „nur“ Bernsteins Candide-Ouvertüre sowie seine Sinfonischen Tänze aus der West Side Story sowie im zweiten Konzertteil Mahlers Fünfte (es lese die Rezension auf www.crossover-netzwerk.de, wer Genaueres über jenes Konzert wissen möchte). Auch das Orquesta Sinfónica Nacional de México hatte es bei seinem Gastspiel ein halbes Jahr später nicht im Programm, und somit könnte es sich an diesem Abend tatsächlich um eine Erstaufführung jenes Stücks im Gewandhaus handeln. Dem Genre Danzón liegt eine traditionelle Tanzform zugrunde, die in Mexiko ungefähr den Platz einnimmt, den in Argentinien der Tango besetzt, was die Komponenten der Anbahnung von Fortpflanzungsaktivitäten betrifft. Die beginnt in der Theorie mit einem eher langsamen Teil, aber die Leipziger Studenten und ihr Dirigent Frédéric Tschumi nehmen bereits diesen Teil zwar in der Tat leise, aber durchaus mit unverkennbarer Zielorientiertheit. Klavier und Flöte dominieren hier, und schrittweise steigern sich sowohl Tempo als auch Lautstärke. Interessanterweise baut der Komponist etliche Stellen ein, wo man rhythmisch beim Tanzbeinschwingen durchaus ins Stolpern geraten könnte, was die Orchestermusiker freilich nur ein Lächeln kostet. Nach einem ersten Intensitätshöhepunkt kommt das Anfangsthema wieder, nun in kammermusikalisch angehauchter Umsetzung, bevor das Tanzbein abermals intensiver zu schwingen beginnt, allerdings noch einiges mehr an rhythmischer Komplexität zu bewältigen hat, wobei das Stück allerdings immer in nachvollziehbaren und tonalen Bahnen bleibt. Apropos Komplexität: Dass ein Schlagzeuger, der gerade unbeschäftigt ist, „abgestellt“ wird, um den Dämpfer aus dem Schalltrichter der Tuba zu ziehen, weil der Tubist an der Klangwechselstelle durchspielen muß und keine Hand frei hat, hat der Rezensent so auch noch nicht gesehen (im vorliegenden Fall übernimmt Alexandra Alt, die einzige weibliche Kraft am Schlagwerk, diese Aufgabe). Das Finale transportiert eine Menge Frische und Lebensfreude, der Schluß ist scharf akzentuiert, und der Applaus im nahezu komplett gefüllten Gewandhaus (ein interessanter Kontrast zum MDR-Konzert, wo nur die Hälfte der Plätze besetzt war ...) fällt schon ziemlich intensiv aus. Da es von Sergej Prokofjew nur zwei Violinkonzerte gibt und beim MDR das zweite erklungen war, folgt aus der Einleitung logisch, dass an diesem Abend das 1. Violinkonzert D-Dur op. 19 zu hören ist, 1923 in Paris uraufgeführt und zumindest nominell die klassische Schnell-Langsam-Schnell-Satzfolge des Solokonzertes invertierend. Der erste Satz ist also ein „Andantino“, dessen Einleitung an diesem Abend mäßig entrückt wirkt. Die Dynamik bleibt lange unten, wenn auch in erkennbarer Stufung, und der Eindruck einer gewissen Sprödigkeit hält sich gleichfalls lange, zumindest so lange, bis der Komponist einen geschickt plazierten Tempoausbruch vorsieht: Hier darf sich die in ein langes weißes Kleid gehüllte Solistin Dorothea Stepp in eine Art Stehgeigerin verwandeln, die über speedig groovenden Celli bzw. Kontrabässen munter drauflosfiedelt, als gälte es, an das eben verklungene mexikanische Tanzstück anzuknüpfen. Das macht Hörspaß und verleiht zugleich allen Beteiligten noch ein Extraquentchen Sicherheit, die dem Ergebnis der anschließenden Rückführung zur Ruhe definitiv zugutekommt. Der Rest des Satzes gehört einem fast sinister wirkenden Entwicklungspart mit vereinzelten Dialogelementen, und die zarte Spannung am Satzschluß gelingt prima. „Scherzo. Vivacissimo“ steht über dem zweiten Satz, und das nehmen Tschumi und seine Studenten erstmal wörtlich: Sie sprinten los, als gäbe es kein Morgen, und wie sie dann in einen treibenden Groove herunterschalten, das könnte in keinem Lehrbuch besser stehen. Diese Kombination der Elemente bleibt kein Einzelfall, und auch in der Folge schaffen es die Musiker (es sind bekanntlich alles Laien, die andere Fächer, aber nicht Musik studieren), der großen Entgleisungsgefahr zu entgehen und den Eindruck von Spielsicherheit zu vermitteln. Tschumi wiederum gelingt es, die Energie so zu dosieren, dass man die Solovioline problemlos durchhört, und der witzige Schluß erzeugt beim nicht konzertgewohnten Teil des Publikums spontanen Zwischenapplaus. Der „Moderato“ überschriebene dritte Satz besticht zunächst durch die Arbeit der Holzbläser, deren „Ticken“ unauffällig, aber wirkungsvoll das Tempo vorgibt. In der Folge entwickelt sich ein Mix verschiedener mittlerer Tempolagen, wo die Solistin organisch ins Gesamtgeschehen eingebunden ist – überhaupt eignet sich dieses Konzert nur sehr bedingt zur solistischen Selbstdarstellung, sondern erfordert ein intensives Miteinander von Solist und Orchester. Diese Aufgabe lösen Stepp, Tschumi und das Orchester an diesem Abend vorbildlich, und an einer Stelle hat Prokofjew schon vorgesorgt: Das große Tutti, das nichtsdestotrotz weit vom Erklimmen irgendwelcher Dynamikgipfel entfernt ist, sieht die Solovioline pausieren, etwaigen Balanceproblemen vorbeugend. Dann entwickelt sich der Satz in Richtung weiter Ausbreitungen von Flächen, die nach kurzer Dramatikwiederkehr immer weiter verengt werden. Als Quasi-Rahmen um das ganze Konzert fungiert ein mäßig entrückter Schluß, der stimmungsmäßig prima ins Gesamtbild paßt, auch wenn bis zum Prädikat „überirdische Musik“, das Lisa Batiashvili, die dieses Konzert justament mit dem Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Séguin eingespielt hat, in einem Crescendo-Interview prägte, doch noch ein Stück fehlt. Der natürlich trotzdem mehr als verdiente Applaus bricht auf dem Rang links hinten fast noch in den Schlußton hinein. Dmitri Schostakowitschs 5. Sinfonie d-Moll op. 47 beginnt kurioserweise mit einem Satz der gleichen Bezeichnung wie der letzte des Prokofjew-Konzertes – aber die Klanglandschaft ist hier eine völlig andere. Tschumi hält das Tempo zunächst sehr weit unten, aber es entsteht vorerst keine Düsternis, sondern eher eine Art Fahlheit, die freilich prima ins Gesamtbild paßt, zumal das Orchester durchaus auch Schärfe ins Geschehen bringen kann, wo das nötig ist – bisweilen auch zuviel, wenn man die Störgeräuschdichte ins Kalkül zieht, die die heftig zupfenden Kontrabassisten noch mit erzeugen. Das Gesamtbild wird zunächst nicht heller, sondern tatsächlich düsterer, die Steigerung hin zum ersten Schlagwerkeinsatz könnte abermals im Lehrbuch stehen, und wie Tschumi und seine Studenten dem Marsch einen hölzern-statischen Eindruck verleihen, das ist ganz großes Kino. Der große Ausbruch hat mehr Pfeffer als bei Prokofjew, die anschließende Kammermusik gelingt trotz Hornwacklern gleichfalls gut, und der Entrückungsfaktor des Satzschlusses liegt ein gutes Stück höher als bei Prokofjew. Das „Allegretto“ überschriebene Scherzo bietet gekonntes Tiefstreichergesäge, läßt in puncto überdrehter Schrägheit allerdings einige Wünsche offen, trotz so mancher guter Einzelleistungen. Vielleicht hält Tschumi das Tempo hier doch einen Tick zu zäh? Andererseits sorgt gerade diese gewisse Zähigkeit für einen zusätzlichen Faktor der ironischen Brechung. Man ist also hin und her gerissen, freut sich aber wieder über wirkungsvolle Streicher-Unisoni, mit denen Schostakowitsch in dieser Sinfonie gern arbeitet und mit der „Monotonie des Yeah Yeah Yeah“ spielt, und irgendwann wird sogar der grundlegende Groove mal etwas ernster genommen. Das „Largo“ plaziert zunächst nur einige kleine Maulwurfshügel auf der lieblichen Streicherwiese, und das Duett der beiden Flöten und der beiden Harfen liegt nicht weit von der Ideallinie entfernt. Tschumi wählt das Tempo nicht zu schleppend, auch wenn er es hier und da doch sehr geschickt rausnimmt. Für eine tiefere Entrückung ist allerdings hier das Publikum zu unruhig, wenngleich das Orchester trotzdem einiges an Spannung erzeugen kann und zudem die „Ränder“ der Streicherflächen durchaus zu schärfen in der Lage ist. Das Satzfinale wird dann zum Kampfplatz zwischen Entrücktheit auf der Bühne und ganz irdischen Virenattacken auf den Rängen. Größtes Interpretationsproblem dieser Sinfonie ist das „Allegro non troppo“ geforderte Finale: Nimmt man die offiziellen Verlautbarungen des „Per Aspera ad astra“-Gedankens ernst, oder legt man den doppelten bis dreifachen Boden frei? Tschumi und seine Studenten tun letzteres. Sie legen erstmal ein beachtliches, allerdings fern von Überhastungsgefahr angesiedeltes Tempo vor, und erzeugen einen trefflichen Scheinoptimismus: Die Fröhlichkeit wird schon hier mit gellendem Gegeifer förmlich in die Ohren der Hörer gestopft und der Dynamikgipfel im ersten großen Höhepunkt schon mal angekratzt, bevor Tschumi sich auch der Aufgabe, noch einmal durch langsam-düstere Klangwelten lavieren zu müssen, gekonnt entledigt. Der Übergang ins Finale holpert etwas (so ironisch hatte Schostakowitsch das nun auch wieder nicht gemeint), aber das Orchester fängt sich schnell wieder, und der kundige Hörer wartet gespannt, für welche Variante des Triumphschlusses sich Tschumi entscheidet. Es wird ein Scheintriumph, soviel ist klar – aber der Schweizer wählt die originelle Variante, die Monotonie so zu betonen, dass kein quasi-militärischer, sondern ein gelangweilter Eindruck entsteht. Der hindert das Publikum natürlich nicht, sofort in begeisterten Applaus auszubrechen. Der regelmäßige Besucher der Konzerte des Leipziger Universitätsorchesters weiß nun, dass noch mit einer Zugabe zu rechnen ist. Von der jahrelangen Praxis, ein Stück humoristisch, z.B. mit Kostümen und Schauspieleinlagen, aufzupeppen, ist man bereits im Sommersemesterkonzert 2017 abgewichen, als sich das Orchester in einen Chor verwandelte und Rheinbergers „Abendlied“ sang (siehe Rezension auf diesen Seiten), ohne Ironie und statt dessen mit Gänsehautfaktor. Letzteren gibt es an diesem Abend auch wieder, allerdings mit einem Orchesterstück, das komplett ohne humoristische Zutaten dargeboten wird. Nach den ersten Takten beginnt der Rezensent trotzdem zu grinsen: Er war eine Woche zuvor an gleicher Stelle beim MDR Sinfonieorchester (auch dieses Konzert wird in Kürze hier rezensiert), das ungewöhnlicherweise auch eine Zugabe gespielt hatte – und zwar das gleiche Stück: „Nimrod“, die neunte von Edward Elgars Enigma-Variationen. Dass die Studenten mit ihrer Version nicht so sehr weit vom Profiorchester entfernt landen, stellt ihnen ein exzellentes Zeugnis aus, und der streichelnde Emotionsfaktor liegt sogar fast gleichauf. Ob diese Wahl nun Zufall war oder nicht, ist in der Endabrechnung eigentlich auch egal (die Schnittmenge der Konzertbesucher dürfte sowieso eher überschaubar gewesen sein): Das Ergebnis stimmt, und nur darauf kommt’s unterm Strich an. Roland Ludwig |
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