Musik an sich


Reviews
Cherubini, L. (Rousset)

Medée


Info
Musikrichtung: Klassizsimus Oper

VÖ: 18.01.2013

(Bel Air Classiques / Harmonia Mundi / 2 DVD / live / 2011 / Best. Nr. BAC 076)

Gesamtspielzeit: 137:00



GENERALÜBERHOLUNG

Wie Christophe Rousset und seine Talens Lyrique die Partitur von Luigi Cherubinis notorischer Medée unter Strom setzen, lässt aufhorchen. Scharf konturiert, mit präziser, dramatischer Attacke und hoher Sensibilität für die klangfarblichen Wirkungen wird Cherubinis Partitur einer interpretatorischen Generalüberholung unterzogen. Ältere Einspielungen mit modernem Sinfonieorchester betonen den mitunter recht steifen Klassizismus Cherubinis durch eine gewisse Neutralität oder versuchen ihn pathetisch-romantisch aufzubrechen. Beide Ansätze entgehen nicht der Gefahr, dass die Musik dadurch eher flächig und undifferenziert - und damit simpel und langweilig - wirkt.

Rousset setzt auf den schlankeren und knackigeren Klang der historischen Instrumente, er mischt Sturm-und-Drang-Momente mit frühromantischer Empfindsamkeit. Cherubini mag kein genialer Komponist gewesen sein, aber sein konzentrierter Stil und seine zukunftsweisenden musikdramatischen Ideen gewinnen in dieser Version erheblich an Deutlichkeit. Zumal die französische Originalfassung mit gesprochenen Dialogen gespielt wird. Im 19. Jahrhundert wurde dieses vermeintliche „Manko“ durch auskomponierte Rezitative und eine italienische Fassung des Librettos „behoben“, das Werk dadurch aber auch konventioneller und schwerfälliger (und im Grunde nur durch den legendären Einsatz von Maria Callas in der Titelrolle wirklich überzeugend). Die Urfassung ist demgegenüber sehr viel ausgewogener und moderner.
Regisseur Krzystof Warlikowski hat die Sprechtexte für seine Version der Oper allerdings neu formuliert und dramaturgisch zugespitzt. Die Abgründe der Personen erscheinen noch tiefer, ihr Umgang miteinander noch grausamer. Da Warlikowski über ein sehr gutes Sänger-SchauspielerInnen-Ensmble verfügt, werden in den Sprechszenen mitunter so große, geradezu filmreife Spannungen aufgebaut, dass die Musik dagegen fast diskret erscheint. Cherubini hat allerdings ganz bewusst auf pompöse Szenen verzichtet, seine Medée ist im Grunde ein Kammerspiel mit großem Orchester. Das Interesse gilt ganz den in tragischen Konflikten verstrickten Personen, wobei die Hass-Liebe-Beziehung zwischen Jason und Medea im Zentrum steht. Mit unerbittlicher Konsequenz zielt alles auf die finale Katastrophe.

Warlikowski arbeitet diese Intimität durch seine packende Personenführung heraus und bis zum blutigen Ende, in der die verstoßene Medea zu Mörderin an ihrer Nebenbuhlerin Dirke und den eigenen Kindern geworden ist, reißt der Spannungsfaden in keinem Moment ab. Das düstere Bühnen-Interieur, das irgendwo zwischen Designer-Wohnung und modriger Tiefgarage angesiedelt ist, schafft mit seinen dunklen Glas- und Spiegelflächen einen Resonanzraum für die psychischen Energieentladungen. In der Ferne rollt der Donner – nie wird es auf der Bühne richtig hell und das Unwetter tobt unablässig. Zwischen den Akten eingeblendete Super-8-Filmszenen von glücklichen Hochzeiten und fröhlichen Kindern beschwören eine kitischig-bedrohliche Familien-Idylle.
Medea erscheint bei ihrem ersten Auftritt in ihrem schwarzen Latex-Kleid, wallender Kunstmähne, Tätowierungen und markantem Augen-Makeup wie ein Wiedergänger von Amy Winehouse: eine Verlorene, eine psychisch Labile, die bereit ist, bis ans Äußerste zu gehen. In Nadja Michael hat die Figur eine stimmlich und darstellerisch herausragende Interpretin, die Medea in ihrer verzweifelten Liebe und ihrem hasserfüllten Rasen beglaubigt, ohne sie als Monster zu denunzieren. Darin trifft sie sich mit Cherubinis Ansatz, der schon die Zeitgenossen 1797 verunsichert hat, weswegen das Werk kein Erfolg wurde. Nach der Französischen Revolution wünschte man Rettungsopern, bei denen man mitfiebern konnte und keine derartig hoffnungslosen Untergangsvisionen, die moralisch indifferent bleiben. Kurt Streit ist ein starker, nicht weniger leidenschaftlicher Jason, dessen kraftvolle und dunkle Tenorstimme lediglich in der hohen Lage etwas an ihre Grenzen kommt. Mit Christianne Stotijn als Medeas Vertraute Neris, mit Hendrickje van Kerckhove als Dirke und Vincent Le Texier als König Kreon sind auch die Nebenrollen auf Augenhöhe besetzt.
Die Kameraführung ist sehr gut auf die Bühnenaktionen abgestimmt. Sie nimmt auch Nebenszenen in den Blick, so dass differenzierte Bilder entstehen.
Eine rundum gelungene Produktion, die eingefahrene Hör- und Sehgewohnheiten aufbricht – und ein überzeugendes Plädoyer für die Urfassung von Cherubinis Medée.



Georg Henkel



Besetzung

Nadja Michael: Medea
Kurt Streit: Jason
Christianne Stotijn: Néris
Vincent Le Texier: King Creon
Hendrickje van Kerckhove: Dircé

Sinfonischer Chor von De Munt / La Monnaie
Orchester Les Talens Lyriques
Christophe Rousset: Leitung

Krzysztof Warlikowski: Regie
Malgorzata Szczesniak: Bühne und Kostüme
Saar Magal: Choreographie


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>