Charpentier, J. (Schäfer)
72 Études karnatiques pour piano
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Info |
Musikrichtung:
Neue Musik Klavier
VÖ: 01.11.2012
(Genuin classics / Note 1 / 3 CD / DDD / 2011 / Best. Nr. GEN 12257)
Gesamtspielzeit: 179:09
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FRANZÖSISCH-INDISCHER KLAVIERKOSMOS
Mit den 72 Études karnatiques von Jacques Charpentier (1933) hat der Pianist Martin Schäfer einen Klavierzyklus der herausragenden Art nicht minder imponierend eingespielt. Charpentier zeigt sich wie viele seiner Kollegen des 20. Jahrhunderts von der Musik des Orients, Indien zumal, inspiriert. Dabei geht es ihm nicht darum, Weltmusikmoden zu bedienen, sondern das Fremde mit dem Eigenen und Bekannten zu einem neuen Ganzen zu verschmelzen. Nicht Kolonisation, sondern gegenseitige Bereicherung ist das Ziel. Die 72 Modi (Ragas) der südindischen – karnatischen – Musik dienen Charpentier als Ausgangsmaterial für seine von 1957 bis 1984 entstandene Etüdensammlung.
Manche dieser Ragas sind eher diatonisch, andere sehr chromatisch. Die einen eignen sich eher für eine modale, andere wiederum mehr für eine tonale oder atonale, ja zwölftönige Komponierweise. Trotz dieser Offenheit gegenüber seinem Material erreicht der Komponist eine erstaunlich geschlossene Gesamtwirkung. Unüberhörbar ist sein starkes Interesse an harmonischen Farben und Sonoritäten sowie eine ungebärdige, oft vehemente Rhythmik, die der Musik eine gewisse kristalline Härte verleiht. Die pianistischen Anforderungen der auf bis zu vier Systemen notierten Musik sind enorm. Massive vollgriffige Tonkomplexe, flamboyante Kadenzen und reich verschlungene Konstruktionen erinnern immer wieder daran, dass es sich auch um „Fingerübungen“ handelt.
Daneben gibt es immer wieder ganze Stücke oder Passagen, die sehr reduziert und von ätherischer Zartheit sind. In ihrer subtilen Sinnlichkeit und Klarheit geben insbesondere sie sich unverkennbar französisch. Charpentiers Musik berührt sich mit derjenigen Stravinskys, Saties, Debussys, Koechlins und Messiaens ebenso wie mit derjenigen Weberns und Boulez‘. Weitgespannte melodische Bögen finden sich ebenso wie ein strenger und kühler Pointilismus, der an den Serialismus der 1950er Jahre erinnert. Und dann gibt es da gelegentlich auch eine verblüffende klangliche Nähe zu den späten Klavierwerken Morton Feldmans mit ihren chromatischen Patterns (CD 2, 7 & 22) oder zu den perkussiven Studies for Player Piano von Conlon Nancarrow (CD 2, Track 3 & 17).
Trotzdem ist Charpentiers Musik von charakteristischer Eigenheit. Technisch ist sie westliche Musik, ihr Geist ist orientalisch: Selbst in den bewegtesten Momenten kreist sie oft statisch in sich; sie ist blockartig konstruiert und mitunter reich ornamentiert; ihr Ausdruck ist eher abstrakt und nicht psychologisch, wohl aber „metaphysisch“ oder „spirituell“, wenn man denn diese arg strapazierten Worte anbringen möchte. Selbst die mächtigste Attacke hat etwas Kontemplatives – als würde man einen gewaltigen Wasserfall oder Vulkanausbruck betrachten (CD 2, 17). Das gilt natürlich erst recht für die jene Stücke, die sich eine fast schon Cage-artige Weiträumigkeit und Stille auszeichnen. Gewöhnungsbedürftig sind die manchmal exzessiven Wiederholungen einzelner Akkorde und das häufige Ausreizen der Kontraste zwischen sehr hohen und sehr tiefen Registern.
Martin Schäfer, der sich in der Reihe Un!Erhört des Labels Genuin auf Repertoire abseits der ausgetretenen Pfade konzentriert hat, widmet sich dieser Musik mit großer technischer Kompetenz, unbedingter Hingabe und Einfühlung in ihre mitunter spröde Poesie. So ist ihm eine bezwingende Interpretation gelungen, bei der die Musik so gar nicht etüdenhaft herüberkommt. Auch aufnahmetechnisch ist diese Produktion sehr gelungen, wobei die Wechsel zwischen massiven Klangballungen und feinsten Pianissimoschwebungen die Tontechnik an ihre Grenzen führt. Das zweisprachige Booklet hätte gerne noch mehr zu den einzelnen Stücken bzw. karnatischen Modi verraten dürfen – und sei es in Form von Notenbeispielen.
Georg Henkel
Trackliste |
CD I
1-4 Zyklus: 61:00
CD II
5-8 Zyklus: 52:00
CD III
9-12 Zyklus: 66:09 |
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Besetzung |
Martin Schäfer: Klavier
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