Charpentier, M.-A. (Niquet, H. – Le Concert Spirituel)
Medée
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Info |
Musikrichtung:
Barock / Oper
VÖ: 02.02.2024
(Alpha / Note 1 / 3 CD / DDD / 2022 / Alpha 1020)
Gesamtspielzeit: 170:43
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ATEMLOS IN DEN ABGRUND
Dass es 29 Jahre brauchte, bis eine neue Gesamtaufnahme von Marc-Antoine Charpentiers einziger Musiktragödie „Medée“ auf CD erscheint, kann verschiedene Gründe haben: Entweder mangelndes Interesse an dem Stück. Oder dass die Messlatte bei der Vergleichseinspielung schlicht sehr hoch liegt. Angesichts der Qualität der Musik und des tragischen Impacts dieser Oper darf man vor allem von Letzterem ausgehen: Mit der Referenzeinspielung von 1995, die William Christie und Les Arts Florissants mit der damals bestmöglichen Besetzung für das Label Erato realisierten, haben sie nicht nur ihren Erstling von 1984 bei harmonia mundi übertroffen, sondern einen Markstein für das Werk wie stellvertretend das französische Barockopernrepertoire überhaupt gesetzt.
Nun folgt ihnen Hervé Niquet mit Le Concert Spirituel und der wahrscheinlich aktuell besten Besetzung für das Werk. Gaben bei Christie Lorraine Hunt, Mark Padmore, Monique Zanetti und Bernard Deletre in den Titelrollen den nuanciert dramatischen Ton an, sind es nun Véronique Gens, Cyrille Dubois, Judith van Wanroij und David Witczak, die die Zuhörenden in den barock ausstaffierten Abgrund hineinhorchen lassen.
Die titelgebende Zauberin Medea entschwebt am Ende der Opern auf einem Drachen, buchstäblich über Berge von Leichen hinweg, die direkt oder indirekt auf ihr Konto gehen: Da liegen nicht nur die Körper der gemeinsamen Kinder aus der Beziehung mit ihrem ungetreuen Gefährten Jason, die sie in ihrer Rachsucht getötet hat, sondern auch die von ihr vergiftete Geliebte Jasons, die Prinzessin Kreusa, weiter deren Verlobter Oronte (im Krieg gefallen), dann Kreusas Vater, König Creon, den Medea in Wahn und Selbstmord getrieben hat, sowie zahllose weitere Kriegstote, Opfer auch der Entfesselung dämonischer Mächte durch die Zauberin. Dieser Triumph des Schreckens, gepaart mit einer „Infizierung“ der Musik durch italienische Stilmittel, resultierte bei der Uraufführungsserie 1697 schließlich in einem Misserfolg. Erst im 20. Jahrhundert anerkannte man die besonderen Qualitäten dieser Oper.
Verglichen mit Christies Interpretation fällt bei Niquet die Tendenz zu schnelleren Tempi – seine Aufnahme ist fast 30 Minuten kürzer –, mehr Legato und überhaupt einem kompakteren, vibratosattem, dunkelrauem Ton auf. Das ist attraktiv und zugleich steht das Ganze unter einem gewissen Druck.
Christis Version klingt schlanker und reicher artikuliert. Bei ihm ist das Cembalo in den Rezitativen ein Akteur unter anderen; es schweigt auch schon mal über längere Strecken, zugunsten von Gambe, Bassgeige oder Theorbe. Ihre verschiedenen, wechselnden Kombinationen der Klangfarben kolorieren die Rezitative.
Bei Niquet hingegen macht das Cembalo in den Rezitativen keine Pause (schweigt dafür in den Tänzen, wie es wohl damals üblich war). Der dicht und kleinteilig gestaltete Continuo-Part mit seinen polyphon improvisierenden Gamben ist klanglich recht dominant, wenngleich die Praxis und Besetzung dem historischen Vorbild mehr als bei Christie entspricht.
Aber Niquet lässt weniger Raum für jene expressiven Stillen, die die Wirkung des Gesangs insbesondere in den vielgestaltigen Rezitativen noch einmal zu steigern vermögen. Mir fehlt hier auch jene Biegsamkeit des zeitlichen Verlaufs mit Zonen der Be- und Entschleunigung, mit Pausen sowie Pointierungen, durch den die Deklamation bei Christie immer wieder nervöse Spannungsmomente gewinnt, im Ganzen farbiger und differenzierter wirkt – und dadurch ausdrucksstärker. Wenn er in bestimmten Momenten verlangsamt und einzelne Airs als geschlossene Nummern heraushebt, dann betont der die italienischen Elemente der Partitur. Niquets Version scheint eher das durchkomoponiert Musikdrama in der Art des 19. Jahrhunderts vorwegzunehmen - eine fasznierende Perspektive, aber gibt die Musik das wirklich her, wenn man es forciert?
Interessanterweise stellt sich der neuen Einspielung mit der Zeit eine gewisse atemlose Monochromie und Monotonie ein, vor allem bei den Rezitativen. Gewiss, alles steht vordergründig unter Spannung und läuft auf die finale Katastrophe zu. Aber es wirkt trotzdem weniger musiktheatralisch und dramatisch als in der langsameren Version. Den Sänger:innen bleibt bei Niquet einfach zu wenig Zeit, die Figuren im Moment zu profilieren. In ihrer vokalen Dauererregtheit wirken sie dann eher gestresst. Angesichts der versammelten Qualität ist es schade, dass der Dirigent den Ausführenden nicht mehr Luft gelassen hat.
Georg Henkel
Besetzung |
Véronique Gens, Cyrille Dubois, Judith van Wanroij, Thomas Dolié, David Witczak u. a.
Le Concert Spirituel
Hervé Niquet
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