Schwanengans an Kürbissuppe: Jianguo Lu, das Neue Salonorchester Leipzig und Markus Kaufmann spielen ein ungewöhnliches Weihnachtskonzert
Jianguo Lu war bereits in seiner chinesischen Heimat ein anerkannter Musiker. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert lebt er in Leipzig, nutzt hier Musik und Kulinarik zu einem kulturellen deutsch-chinesischen Brückenschlag und fand im langjährigen Gewandhaus-Bratscher Henry Schneider einen Verbündeten im Geiste, was die Gestaltung ungewöhnlicher Konzertprogramme angeht – letztgenannter gehört bekanntlich zu den Chefdenkern der Stelzenfestspiele bei Reuth, einem der eigenartigsten Beiträge zur Festivallandschaft Deutschlands. Mit dem Neuen Salonorchester Leipzig, hinter dem sich in der Normalbesetzung eine siebenköpfige Kammermusikformation verbirgt, spielt Schneider gleichfalls oft originelle Programme, und auch das Projekt an diesem Abend ist nichts Alltägliches: Ein Weihnachtskonzert in der Leipziger Nikolaikirche mutet zunächst nicht nach etwas Besonderem an, ein Weihnachtskonzert mit Instrumenten wie der Erhu, der chinesischen Geige, und mit etlichen Werken chinesischer Komponisten aber schon. 2016 gab es ein solches Konzertprojekt erstmalig, 2018 zog man aus der Alten Börse in die nahe und deutlich mehr Besucher fassende Nikolaikirche um, und diese ist auch 2023 sehr gut gefüllt. Das Neue Salonorchester spielt an diesem Abend als erweitertes Streichquartett, nämlich in Quintettbesetzung mit einer Harfe als fünftes Instrument; dazu kommen Lu selbst und Markus Kaufmann, der Organist der Nikolaikirche. Kaufmann spielt naturgemäß von der Orgelempore aus (von wenigen Momenten abgesehen, die er an einem Cembalo im Altarraum bestreitet), und auch Lu befindet sich anfangs dort oben, während die fünf Musiker des Salonorchesters auf einem kleinen Podest in der Vierung stehen bzw. sitzen. Der Rezensent wiederum sitzt rechts vorn in der zweiten Reihe direkt am Mittelgang und daher sehr nahe an der Harfenistin, während sich der Cellist aus dieser Richtung gesehen bzw. gehört hinter der Harfe und ihrer Spielerin befindet, so dass das Ohr ein wenig Zeit braucht, um sich auf diese Verhältnisse einzustellen. Im Opener „Schwanengans“ von Hongguang Zhang kann diese Fähigkeit prima eingeübt werden, da das Orchester sehr zurückhaltend und transparent agiert, die Leadfunktion klar der Erhu überlassend, die sich wiederum auch über dem Orgelklangteppich gut in Szene setzen kann und irgendwie so anmutet, als hätte die Ladegast-Sauer-Eule-Orgel der Nikolaikirche noch ein originelles Register mit asiatischem Sound hinzubekommen. Das Gros der weiteren Stücke bestreiten die Musiker dann in laufend wechselnden Besetzungen, gegliedert jeweils durch Moderationen Schneiders in trocken-humorigem, aber nie respektlosem, sondern immer kurz vor einer imaginären Grenze haltmachendem Tonfall. Louis Viernes „Carillon de Westminster“ ist ein reines Orgelstück, klanglich an französischen Kathedralmulm angelehnt, also ziemlich ineinanderlaufend und die Möglichkeiten der Schweller der Orgel geschickt zum Einsatz bringend, letztlich in beeindruckenden Finalbombast mündend. Georg Friedrich Händels „Ombra ma fui“ aus der Oper „Xerxes“ gibt es für Erhu und Orgel, wobei der sangliche Ton der Erhu der Wirkung definitiv entgegenkommt. Die Suite aus Peter Tschaikowskis „Nußknacker“ für Harfe und Streichquartett eröffnet anfangs noch Reserven im Zusammenspiel, aber die lockere Spielfreude überzeugt schon hier. Der „Tanz der Zuckerfee“ (Schneider weist augenzwinkernd darauf hin, dass in der Suite ein gewisses Stück käme, das alle DDR-Fernsehkieker automatisch mit einem Treppenaufstieg in eine Rumpelkammer verbinden) holt das Thema aus der Harfe und gerät sehr hübsch, und im Finale darf die Harfe auch noch ausführlich solieren. Der Komponistenname Yanjun Hua ist dem an chinesischer Kultur interessierten Leipziger erst zweieinhalb Monate zuvor begegnet, nämlich im Konzert des Suzhou Chinese Orchestra im Gewandhaus. In der Nikolaikirche gibt es nun „Der Mond spiegelt sich auf dem See“ in einer Fassung für Erhu und Orgel. Das sehr beschauliche Stück wartet mit einem interessanten Unisono-Gang in Richtung Finale auf und fordert die Naturlaut-Imitationsmöglichkeiten der Orgel, also Vogelgezwitscher etc. In eine völlig andere Richtung geht die Sonate Nr. 46 von Domenico Scarlatti, original ein Klavierstück, an diesem Abend für Harfe – die Umsetzung funktioniert prima und entbehrt der dynamischen Möglichkeiten nicht. Das chinesische Lied zum Abschied eines Freundes bringt das nächste ostasiatische Instrument zu Gehör, die Xun, eine schon vor 7000 Jahren nachgewiesene Knochenflöte, die einen sehr weit entfernt wirkenden Sound hervorbringt, der den Orgelteppich trotzdem problemlos durchdringt. Einige Schwingungen erinnern gar an elektroakustische Instrumente wie das Ondes Martenot, und das Stück selbst ist naturgemäß wieder eher nachdenklich gehalten und atmet viel Spannung im Schluß. Nächstes Stück, nächstes Instrument: Schneider legt die Bratsche weg und greift zur Nyckelharpa, und gemeinsam mit Kaufmann am Cembalo intonieren die Musiker eine dreisätzige Suite von Marin Marais in althergebrachter Schnell-langsam-schnell-Satzfolge, wobei der schreitende zweite und der flotte folkspeedige dritte Satz besonders hervorstechen. „In dulci jubilo“ als Choralbearbeitung des lokalen Säulenheiligen Johann Sebastian Bach bleibt an diesem Abend eher unauffällig, bringt aber einige hübsche Flötenregister in der Orgel zu Gehör. Mittlerweile ist auch Lu von der Empore herabgestiegen und spielt „Am Himmel ziehen bunte Wolken“ von Dongsheng Zang mit dem Salonorchester unten, und zwar auf der Hulusi, einer Kürbisflöte. Die „muß immer warm gehalten werden, so wie die Suppe“, bringt Schneider eines seiner unnachahmlichen Bonmots. Das Zusammenspiel klappt prima, wobei die intensivste Kommunikation der Hulusi mit der Harfe stattfindet, die wiederum asiatisch anmutende Harmonien spielt, was das unterschwellig recht zügige Stück reizvoll macht. Das von Primgeiger Sebastian Ude arrangierte Jazz-Potpourri „Fröhliche Weihnacht“ morpht das Hauptthema des Titelliedes über eher konventionelle Umsetzungen in reichlich abseitige, melancholische Moll-Welten, die trotzdem irgendwie Hörspaß machen. Max Reger wiederum hätte sich vermutlich nicht träumen lassen, dass es sein „Mariä Wiegenlied“ mal in einer Fassung für Erhu und Salonorchester geben würde – und die durchsichtige und gefühlvolle Version straft alle Lügen, die ihn auf feisten Bombast festlegen wollen. Mingyuan Lius „Voller Freude“ kündigt Schneider an, es klinge wie ein fröhliches irisches Pub-Lied, nur halt mit Erhu und statt Guinness mit Reiswein. Das Stück bleibt im Arrangement für Erhu und Salonorchester lange nur mäßig schnell, aber das mit dem freudigen Ausdruck stimmt, wobei die Harfe hier einen klassischen Basso continuo spielt und nach hinten heraus dann doch noch flockig-fröhlicher Speed erklingt, der einen zum Tanzbeinschwingen mit der Nachbarin animieren würde, säße man nicht in einer Kirchenbank. Den bisher stärksten Applaus erntet das Stück aber trotzdem und bahnt den Weg zum letzten Stück in der gemeinsamen Siebenerbesetzung, diesmal mit Erhu und Salonorchester unten und einem Orgelbaß von oben: „You Raise Me Up“ von Rolf Lovland verführt einen irgendwie dazu, „Were you there when they crucified my Lord?“ zu singen, gebärdet sich aber relativ zügig und wird dadurch nicht zu rührselig, sondern einfach nur schön. Gab es bisher schon so manches Ungewöhnliches zu hören, so setzt der Schlußteil des Konzertes noch eins drauf. Zunächst kommt ein Instrument namens Igel zum Einsatz, das dem Vernehmen nach auch schon in Stelzen erklungen ist. Auf zwei Böcken ist ein Balken befestigt, in den Schrauben unterschiedlicher Länge und Dicke unterschiedlich weit eingedreht sind. Diese Schrauben werden mit Bratschenbögen angespielt und der Klang anschließend noch verstärkt – hier treten einige von Schneiders einstigen Kollegen aus dem Gewandhausorchester in Aktion. Was sie aus den Schrauben holen, ist der Basso continuo von Johann Pachelbels Kanon in D, dessen weitere Stimmen dann von den anderen Instrumenten gespielt werden. „Ich sehe schon mehr Handys als Köpfe“, kommentiert Schneider das Interesse des Publikums an dem reichlich ungewöhnlichen, aber für den Einfallsreichtum des Stelzen-Teams irgendwie archetypischen Instrumentes. Danach darf das Publikum auch noch selbst musikalisch aktiv werden und kollektiv „Alle Jahre wieder“ und „Tochter Zion“ zur Begleitung durch die Orgel singen. Der Ersteller des Programmhefts hat offenbar großes Vertrauen in die Textkenntnis der Anwesenden, denn die Texte sind dort nicht abgedruckt – oder es müssen alternative Wege gefunden werden: „Alle Jahre wieder“ kriegt der Rezensent noch auswendig hin, bei „Tochter Zion“ hilft ihm ab dem Mittelteil von Strophe 2 seine Nachbarin, die ihn mit in ihr Smartphone linsen läßt. Eine Zugabe gibt es nicht, aber das Programm hat sowieso schon deutlich länger gedauert als die 75 Minuten, die dem Rezensenten vorher mitgeteilt worden waren, nämlich 115 Minuten, so dass sich niemand über mangelnde Quantität zu beschweren braucht – und über mangelnde Qualität schon gar nicht. Eine feine Sache – und so mancher der Anwesenden wird sich den im Programmheft bereits kommunizierten Termin 13.12. für die 2024er Auflage dieses interessanten Konzertprojektes schon vorgemerkt haben. Roland Ludwig |
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