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Info
Zeit: 30.09.2023
Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal
Fotograf: Suzhou Chinese Orchestra
Internet:
http://www.suco-europe-tour.com
Fragt man einen hochkulturbeflissenen Chinesen nach den Namen europäischer Komponisten des Klassikbereiches, so wird man vermutlich aus der Pistole geschossen Dutzende oder Hunderte solche hören, darunter vielleicht auch ein paar von noch lebenden Tonschöpfern. Fragt man einen hochkulturbeflissenen Europäer nach den Namen chinesischer Komponisten des Klassikbereiches, dürfte nicht selten peinliches Schweigen herrschen, bevor dem einen oder anderen zumindest der Name Tan Dun einfällt. Aber sonst? Was weiß man in Europa über die chinesischen Tonschöpfer generell und die der heutigen Zeit im Speziellen?
Dieses Wissen zu erweitern und eine kulturelle Brücke in die jetztzeitige chinesische Komponistenwelt zu bauen ist eines der Ziele des Suzhou Chinese Orchestra, anno 2018 vom Dirigenten Kang Pa-Kang gegründet – und der Mann kennt beide Welten, denn er hat in Peking und in Wien studiert. Das Orchester aus der in der Nähe von Shanghai gelegenen Zwölf-Millionen-Stadt Suzhou besteht hauptsächlich aus jüngeren Musikern unter 30 Jahren und besitzt besonders in Österreich bereits ein gewisses Standing, da es 2021 beim Österreichischen Musiktheaterpreis mit einem Sonderpreis ausgezeichnet wurde und der Dirigent zusätzlich einen Sonderpreis für sein interkulturelles Engagement erhielt. Pandemiebedingt mußte die erste Europatour des Orchesters allerdings mehrfach verschoben werden, und erst jetzt im September und Oktober 2023 kann sie über die Bühne gehen, wobei sich unter den Spielorten auch das Leipziger Gewandhaus befindet.
So mancher der im messestädtischen Musentempel leider in relativ übersichtlicher Kopfzahl erschienenen Besucher wird zunächst gestaunt haben, dass hier tatsächlich ein Orchester mit überwiegend chinesischen Instrumenten vor ihm sitzt (was der Name freilich bereits angedeutet hat). Celli, Kontrabässe und eine Harfe gibt es auch hier, zudem fände man einen Teil des reich besetzten Schlagwerks auch in einem typischen europäischen Orchester wieder. Aber ansonsten existieren hier eben weder Violinen noch Bratschen, sondern die Erhu in drei verschiedenen Höhenlagen, dazu kommen an Saiteninstrumenten zwei Höhenlagen der zur Lautenfamilie zählenden Ruan, mit Liuqin und Pipa noch zwei weitere Arten von Lauten sowie die hackbrettartige Yangqin, und die Bläser sind mit der Querflöte Dizi, der Mundorgel Sheng und der oboenartigen, aber mit Mundstück und Schalltrichter ausgestatteten Suona komplett chinesisch besetzt. Bestimmte Dinge aber unterscheiden sich nicht:
Konzertmeisterin Sun Yaoqi kommt als letzte auf die Bühne und wird gesondert begrüßt (das ist nicht bei allen europäischen Orchestern üblich, aber zumindest bei einigen), und gestimmt wird zu Beginn auch, wenngleich in partiell ungewohnten Modi.
Das Programm der Europatour wird nicht an jedem Ort identisch gespielt, sondern unterliegt gewissen Variationen. Von den vier in Leipzig im regulären Programm erklingenden Werken sind drei aktuelle Auftragskompositionen des Orchesters, die auf dieser Tour ihre Europapremiere erfahren. Mit einer solchen geht es gleich los, nämlich der Lyrischen Sinfonischen Dichtung „Die Ahornbrücke im Sprühnebel“ D-Dur von Li Binyang – den Namen könnte der eine oder andere Spezialist auch noch in Erinnerung haben oder auch Musik aus seiner Feder im Ohr: Der Mann schrieb anno 2008 die Musik zum Einzug der Athleten bei den Olympischen Sommerspielen in Peking. Die Ahornbrücke wiederum erhebt sich aus einer breiten Klanglandschaft, die durch markante flötenartige Motive geprägt ist, wobei die Erhu meist flächig erklingen, aber auch strukturgebend agieren können und aus den Ruan mandolinenartige Klänge kommen. Das 1. Tutti stellt zumindest den Rezensenten noch vor gewisse Herausforderungen bei der klanglichen Durchdringung des Materials, zumal er an einem Platz rechts im Parkett sitzt, an dem er zuvor noch nie gesessen hat – aber das Ohr gewöhnt sich schnell an seine neue Aufgabe, und so mutet das zweite Tutti schon deutlich transparenter und leichter analysierbar an. Die mystische Stimmung schlägt bald in muntere Tavernenmusik um, wonach eine sehr gekonnte Dramatisierung folgt. In der zweiten Hälfte des viertelstündigen Stücks herrscht viel mehr akustische Bewegung, da ein wasserplätscherndes Nocturne bald in schlagzeugdominierten Bombast mündet, der auch als Soundtrack für einen Martial-Arts-Film taugen würde. Der einem friedlichen Abschnitt folgende Schluß bietet feierlichen Bombast mit faszinierender Bläserarbeit, die im Falle der in mehreren Größen zum Einsatz kommenden Sheng nicht selten an Dudelsackklänge erinnert.
Das einzige ältere der vier Werke ist „Der Mondschein über der zweiten Quelle“ von Hua Yanjun, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts arbeitete, aber auch dieses gibt es an diesem Abend in einem neuen Arrangement zu hören, das auf dieser Tour seine Europapremiere feiert und von Zhu Changyao für die Besetzung Solo-Erhu plus chinesisches Orchester geschaffen wurde. Zhu Changyao (Foto) ist auch selbst als Erhu-Solist am Start, und über einem elegisch-romantischen Background kommt ihm die Aufgabe zu, vorwärts zu drängen, woraufhin sich ein munterer Groove entwickelt. Über weite Strecken kann man den Solisten gut durchhören, nur gegen ein Erhu-Tutti hat er dann doch wenig Chancen – Bläser und Schlagwerk gibt es mit Ausnahme eines Glockenspiels hier allerdings nicht, wobei interessanterweise die betreffenden Musiker trotz der nur sechsminütigen Spieldauer zwischenzeitlich von der Bühne gehen. Die einleitende romantische Stimmung gewinnt jedenfalls bald wieder Vorrang, leicht melancholisch durchwirkt freilich, da der Protagonist des Stückes blind ist (der Komponist hat sich sozusagen selbst dargestellt) und die Quelle somit zwar hören, aber nicht sehen kann. Das Stück klingt sanft aus und enthält keine Kadenz oder ähnliche Passagen.
Bis dahin hat man bereits festgestellt, dass die europäischen und die chinesischen Instrumente im Orchesterklang gut harmonieren – nun steht aber eine weitere Steigerungsstufe an: das Klavierkonzert „Musik und Landschaft im Einklang“ Des-Dur von Zhang Zhao. Dessen fünf Sätze tragen allesamt tradierte Überschriften, es geht also mit einem Moderato con brio los, das eine sehr dramatische Orchestereinleitung auffährt. Da das knapp halbstündige Werk die Landschaft entlang des Jangtsekiang beschreibt, haben wir hier also offenbar eine Quellsituation inmitten majestätischer, steil aufragender Berge vor uns. Pianistin Nadezda Pisareva (Foto), die im Rahmen der Tour nur an diesem einen Abend mit dem Orchester spielt, kann man in dieser Passage noch gar nicht durchhören, aber auch hier wird das Ohr in späteren Tutti schon in diesem Satz „fündig“, weil es lernt, wann es im Gesamtklang wo nach dem Klavier zu suchen hat – sofern der Komponist es nicht von vornherein schweigen läßt. Von der Klangstruktur her stellt er sich klar in die europäisch-spätromantischen Traditionen: Viel von dem, was er hier schreibt, hätte auch Sergej Rachmaninoff einfallen können, und zu dessen Werk hat Pisareva natürlich einen leichteren Zugang. Das Zusammenspiel mit einzelnen Instrumentengruppen erbringt durchaus interessante Ergebnisse, eine kurze Kadenz gerät ruhig perlend, und auch der Rest des Satzes ist mit diesem Adjektiv gut umschrieben.
Die Sätze gehen allesamt attacca ineinander über. Das Adagio tranquillo zeigt ein friedliches Fließen ohne Düsternis und mit einfach nur schöner Gestaltung, während sich am Beginn des Moderato agitato offenbar ein erster Wasserfall zeigt, da hier wild herausfahrende Klänge dominieren, die viel dramatischer ausfallen als die Einleitung des ersten Satzes, wobei die Pianistin akustisch gegen die Bläser hier allerdings tatsächlich keine Chance mehr hat. Dafür bekommt sie hier eine echte Kadenz, die immer ruhiger wird und einige Spannung atmet, woran sich ein gleichfalls ruhiger Orchesterausklang anschließt. Das Allegro vivo hingegen gerät titelgemäß sehr lebendig und entwickelt einiges an Dramatik, hier aber gut ausbalanciert und daher mit gut hörbarem Klavier, vom Megabombast mit viel Einsatz der großen Trommel mal abgesehen, der ins finale Moderato con fuoco überleitet. Der eher kurze Satz bringt das Hauptthema des ersten wieder ins Spiel, aber in bombastischerer Verarbeitung, wobei das Ohr wie erwähnt jetzt aber weiß, wo das Klavier im Gesamtbild steht. Die Beteiligten ernten viel Applaus und einige Bravi, wofür sich die in ein pink-blau gemustertes Kleid gehüllte Pianistin noch mit einem ruhigen Stück bedankt und hier große Spannung zu entwickeln in der Lage ist: Claude Debussys Prélude No. 8, auch als „Das Mädchen mit dem flachsblonden Haar“ bekannt und mit „Très calme et doucement expressif“ überschrieben, was Pisareva prima umsetzt – und das, obwohl weder sie selbst noch eine andere der bühnenaktiven Musikerinnen der optischen Beschreibung entspricht; selbst die Harfenistin Cai Jingyu, die dem noch am nächsten käme, ist vom Attribut „flachsblond“ ein gutes Stück entfernt.
In der zweiten Programmhälfte steht die Sinfonie Nr. 5 D-Dur „Guangmin – Licht“ von Liu Changyuan auf dem Programm. Der erste Satz, ein Allegro con brio, beginnt in europäischer Tradition mit einer langsamen Einleitung, hier aus Glockenspiel und Harfe, ehe der Hauptteil in enormem Tempo losbricht und auf klassische Art und Weise zu einem markanten bläserdominierten Hauptthema führt. Der relativ kurze Satz lebt nicht von Themenkontrasten, sondern setzt weiter auf Hochgeschwindigkeit, allerdings mit interessanten Variationen und einer gut ausziselierten Dynamik, die etwaige Langeweile verhindert.
Das Allegretto con spirito an zweiter Position hebt abermals mit einer langsamen Einleitung an, diesmal aber aus den Erhu, ehe sich eine akustische Kampfszene entwickelt, die klarmacht, wie eine chinesische Version von Dmitri Schostakowitsch klingen könnte. Das Gedonner aus dem Schlagwerk entfaltet große Wirkung, die Tonsprache fällt hier ein gutes Stück avantgardistischer aus als im ersten Satz, eine ganze Batterie an kleinen Gongs prägt zurückhaltendere Passagen, und der Schluß gerät erneut sehr kämpferisch.
Das Lento erweist sich als ergreifender Trauergesang, zunächst geprägt durch eine Erhu-Solistin – nicht die Konzertmeisterin, sondern die ihr gegenübersitzende Zhang Tongyao. Die Tonsprache fällt hier wieder deutlich traditioneller aus, das Tempo ist sehr langsam, wodurch ein feierlicher, aber nicht richtig düsterer Eindruck entsteht. Der Satz besitzt wenig interne Dynamik, aber die wird hier auch gar nicht gebraucht.
Nach einer sehr kurz gehaltenen Generalpause wandelt sich der Charakter, die Musik wird etwas drängender – wir sind hier aber schon im vierten Satz, einem Andante amoroso, das etwas munterer daherkommt und eine Art latenten Groove entwickelt, auch wenn das Grundtempo relativ weit unten bleibt. Das ändert sich im hinteren Satzteil, als sich aus unheilvoll drohenden Bässen und Celli lehrbuchreif eine große Steigerung entwickelt, die in feierlichem Bombast mündet, ehe der Satz dann doch wieder ruhig und lieblich ausklingt.
Das finale Presto hebt mit wüstem Bombast an, fährt dann aber einige interessante rhythmische Motive auf, die die Hochgeschwindigkeit wirkungsvoll gliedern, wobei man abermals den Eindruck hat, hier sei ein chinesischer Schostakowitsch am Werk. Den Energietransport weiß der Dirigent gut zu dosieren, so dass keine Überforderung des Hörers entsteht, zumal sich mehrere elegische Zwischenteile einschieben, deren letzter eine Art Spukcharakter in avantgardistischer Tongebung enthält, was geschickt wieder ins Hauptthema überführt wird. Eine ebenso geschickte Exzelsiorentwicklung mündet in einen Marschteil, der das Thema aus dem ersten Satz noch einmal hervorholt, ehe mehrstufig ein riesiger Triumphbombastschluß anhängt, der selbst für die metalgestählten Ohren des Rezensenten an der Lärmgrenze steht, allerdings in der Tat einiges an Überwältigungspotential bereithält und das Publikum nach dieser intensiven und interessanten Dreiviertelstunde zu intensivem Applaus motiviert.
So verwundert es nicht, dass Zugaben folgen. Die erste, ein Ausschnitt aus „Harmony Of The Seven Colours“ von Zhang Zhao, gestaltet sich zunächst als Nocturne, dessen Motive aus dem Orchester über die Ruan in die Solo-Erhu, wieder gespielt von Zhang Tongyao, wandern. Ein kurzer Bombasteinwurf deutet aber an, dass da noch Wendungen bevorstehen, und siehe da: Das Hauptthema wird zunächst von einigen der Musiker mitgesungen (in Vokalisen), ehe sich bombastische Hochgeschwindigkeit ausbreitet, im Finale übrigens abermals mit Vokalisen. Die Bravorufe locken noch eine zweite Zugabe heraus, und da merkt man dann schon, dass der Dirigent (der übrigens extrem körperbetont agiert) in Wien studiert hat: Es gibt die Polka „Unter Donner und Blitz“ op. 324 von Johann Strauß Sohn – eine schräg anmutende, aber bestens funktionierende Idee, dieses Stück von chinesischen Instrumenten spielen zu lassen. Noch einmal liefert das Suzhou Chinese Orchestra Energie im Überfluß, zumal die große Trommel hier äußerst wirkungsvolle Arbeit verrichtet, und mürrische Erbsenzähler, die monieren könnten, dass das mit historischer Aufführungspraxis nun gar nichts zu tun hat, sind an diesem Abend offensichtlich abwesend. Das Stück macht zum Grande Finale nochmal richtig Laune, und nach brutto mehr als zweieinhalb Stunden Spielzeit endet ein hochinteressantes Konzert, dessen Werken (und nicht nur denen – wenn das die fünfte Sinfonie von Liu Changyuan ist, könnte man ja vier vielleicht ähnlich interessante davor vermuten) man durchaus weitere Verbreitung wünschen würde, ob nun in der chinesischen Originalinstrumentierung oder aber vice versa in Arrangements für eine europäische Orchesterbesetzung. XièXie!
Roland Ludwig
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