Die lamentierende feurige Null: Das Gewandhausorchester spielt, teils erstmals, Werke von Haydn, Sadikova und Bruckner
Dass es an renommierten Konzerthäusern auch heute noch gelegentlich eine Uraufführung gibt, ist selbst in Zeiten des entwickelten klassischen Kanons gang und gäbe. Dass aber eine Sinfonie eines der zentralen Säulenheiligen des klassischen Kanons noch nie am Leipziger Gewandhaus erklungen ist, dürfte einen gewissen Seltenheitswert besitzen, auch wenn sich unter den 107 Sinfonien von Joseph Haydn vermutlich außer der Sinfonie d-Moll Hob. 1:26 („Lamentatione“) noch einige andere finden dürften, auf die das gleichermaßen zutrifft – im Zuge des 19. Jahrhunderts verschwanden Haydns Werke zumindest in der großen Breite aus dem Orchesterspielplan, und was bis dahin nicht in diesen gefunden hatte, mußte warten, nicht selten auch längere Zeit. Die genannte Sinfonie erklingt also unter Omer Meir Wellbers Leitung Mitte Oktober zum ersten Mal im Leipziger Musentempel, und das Programm startet auch tatsächlich mit ihr – im Gegensatz zum 11.03.2022, als der Ausbruch des Ukraine-Krieges den Anlaß für einen Programmzusatz, nämlich eine Orchesterfassung von Bachs „Verleih uns Frieden gnädiglich“, bildete, gibt es einen derartigen Zusatz diesmal trotz des Hamas-Angriffs auf das Heimatland des Dirigenten, Israel, nicht (zumindest nicht an demjenigen der beiden Konzertabende, den der Rezensent miterlebt hat). Zunächst fällt die Mini-Besetzung auf – Streicher, vier Holzbläser, ein Horn. Trotzdem schaffen es die Musiker problemlos, den riesigen, für ganz andere Besetzungen ausgelegten Raum klanglich angemessen zu füllen, und als Hörer kann man so auch einiges an ungewöhnlichen Klangerlebnissen konstatieren. Ins eröffnende Allegro assai con spirito legt der Dirigent bei allem Vorwärtsdrang auch schon eine gute Portion Eleganz, wenngleich die Klänge hier und da noch zu sehr ineinanderfließen. Dafür überzeugt die Laut-Leise-Dynamik bereits hier, trotz der erwähnten Kleinbesetzung des Orchesters oder vielleicht in manchen Passagen auch gerade wegen ihr. Im Adagio kommt ein choralartiges Thema vor, und hier braucht das Orchester die Wiederholung im Piano, um maximale Wirkung zu entfalten – die Ausgangsfassung atmet zuviel nervöse Hektik vor allem aus den ersten Violinen, von der es im Fortgang dann ungeplant auch noch etliche gibt. Auch das Konzertmeister-Solo findet keinen gemeinsamen Ton mit dem Orchesterunterbau – dafür holen die wunderbaren Holzbläser hier die Kastanien aus dem Feuer. Das Menuetto nimmt der Dirigent sehr akzentuiert, betont die Generalpausen stark und erzeugt so einen eher zerklüfteten Eindruck. Im Trio sieht die Strategie nicht anders aus, einige hervorgehobene Tuttischläge stehen sogar an der Grenze zur Parodie, und nach einer kurzen Reprise ist der Satz plötzlich zu Ende – und nicht nur der Satz, sondern auch die Sinfonie: Einen vierten Satz, den man strukturell eigentlich erwarten würde, besitzt sie nicht, aber das Gros des Publikums hat das im Programmheft offenbar nicht gelesen, und so entsteht eine verwirrt anmutende Pause, bis dann doch der verdiente Applaus gespendet wird. Eine längere Pause gibt es auch danach – es machen sich größere Umbauten notwendig, um die Uraufführung von Aziza Sadikovas „Strahlen des Feuers“ für Orgel, Akkordeon und Orchester spielen zu können: Die Orgel wird vom mobilen Spieltisch auf der Bühne aus bedient, der im Gegensatz zum bereits postierten Schlagwerk erst herangefahren werden muß, und zudem muß das Akkordeon an das Soundsystem angeschlossen werden. Widmungsträger dieses Doppelkonzertes ist Omer Meir Wellber, der auch ein ausgezeichneter Akkordeonist ist – letztlich spielt aber nicht er den Solopart, sondern Geir Draugsvoll, während er sich aufs Dirigat des ziemlich komplexen Stückes beschränkt. Das hebt mit schicksalhaftem Grollen, Glocken und ultratiefen Orgelprinzipalen an und läßt schon hier erkennen, dass dem Hörer eine Herausforderung bevorsteht. Die Klangbalance ist schwierig – so gehen selbst spätere Glockenpassagen im Orgelbombast unter. Das verstärkte Akkordeon ist zwar hörbar, wird aber aufgabentechnisch lange untergebuttert, wohingegen Orgel und Orchester große Mengen finster-schrill-schrägen Lärms erzeugen, der intensiv an den Nervensträngen des Hörers sägt. Nach geraumer Zeit entwickeln sich allerdings einige spannende Dialoge der beiden Soloinstrumente, und wenn die Orgel das Grollen des Akkordeons übernimmt und in ein ultratiefes Register überführt, dann hat so ein Einfall doch Größe. Leider gibt es davon insgesamt zu wenige, trotz etlicher eigentümlicher Schlagwerk-Effekte im langwierigen Hin und Her des Mittelteils. Die ausgedehnte und wilde Orgelkadenz sägt wieder an den Hörnerven, das Grollen aus dem Akkordeon kommt wieder und klingt wie ein nicht anspringender Motor, ehe man Draugsvoll das Instrument in mehrminütigen Tutti-Steigerungen nur noch spielen sehen, aber nicht mehr spielen hören kann. Nach weiterem wüstem Lärm an der Grenze des physisch Aushaltbaren (und an der Grenze dessen, was Michael Schönheit, als Gewandhausorganist immerhin eine Kapazität seines Faches, physisch spielen kann) entschwebt das Stück ins Pianissimo; die Strahlen des Feuers haben offenbar alles verzehrt, was da war. Einzelne Buhrufe, im Gewandhaus eine Seltenheit, weichen letztlich eher freundlichem und überraschend ausdauerndem Applaus. Auch Anton Bruckners sogenannte Nullte Sinfonie d-Moll WAB 100 ist ein seltener Gast im Gewandhaus geblieben. Herbert Blomstedt beispielsweise hat diese Sinfonie in seinem Bruckner-Zyklus mit dem Gewandhausorchester ausgelassen, Andris Nelsons hat sie zwar aufgenommen, aber nicht im Konzert gespielt und auch nicht als Einzel-CD in seinem Zyklus veröffentlicht, sondern nur in dessen Boxset. So datiert die bisher letzte Inklusion in ein Gewandhaus-Konzertprogramm aus dem Jahr 1990. Der Beiname bezieht sich bekanntermaßen nicht darauf, dass diese Sinfonie zeitlich vor der Ersten entstanden wäre, sondern darauf, dass Bruckner sie nachträglich annulliert und für ungültig erklärt hat – auf eine Vernichtung hat er aber verzichtet und sie statt dessen einem Museum in Linz vermacht, von wo aus sie lange nach seinem Tod doch noch auf die Konzertbühnen gefunden hat. Strukturelle Merkwürdigkeiten gibt es hier kaum – das Werk hat die klassischen vier Sätze und hebt mit einem Allegro an, das eine groovig-flotte Einleitung besitzt, die stilistisch ein gutes Stück rückwärts blickt. Statt einer klassischen Themenentwicklung entspinnt sich ein ausgedehntes Hin und Her zwischen etlichen interessanten Einzelgedanken, und in längeren ruhigen Passagen bieten die Posaunen schon gewisse chorale Vorahnungen und erzeugen einiges an Spannung, was zugleich einen wirkungsvollen Kontrast zum von Wellber sehr bewegungsintensiv geleiteten Tutti-Gedonner hergibt. Auch die Weiterentwicklung erfolgt in großen Wellen, in denen eine starke Pausenbetonung besonders auffällt, und einige feierliche Momente machen Platz für einen energischen Schlußspurt, dem schon eine starke Finalwirkung innewohnt. Aber da kommt natürlich noch einiges, zunächst das Andante, also noch keines der späteren existentialistischen Adagios. Der Dirigent wählt eine sehr bedächtige, sanfte Entwicklungsstruktur, und auch in der Folge bleibt die Zartheit trotz einiger großer Wellen und einer problematischen Erkältungsquote im Publikum Sieger. Hübsche Kammermusik kommt aus dem Holz, und Wellber zeichnet diverse große Bögen auf intensive, aber stimmungsdienliche Weise, bis hin zur spannenden Themenwiederkehr im Pianissimo. Über dem Scherzo steht sogar „Presto“, aber der Dirigent verordnet ganz leichte Tempozurückhaltung – der Energietransport klappt mit viel Gedonner auch so, selbst wenn Bruckner hier die eingängige Hitverdächtigkeit späterer Genrebeiträge noch nicht erreicht und auch die gewisse strukturelle Zerklüftung gewöhnungsbedürftig anmutet. Dann kommt allerdings ein sehr breites und trotzdem alles andere als gemütliches Trio, das phasenweise eher scheu und angedüstert anmutet, aber trotzdem an Lieblichkeit gewinnt und mit einer Holzeinlage über Pizzikati sogar Humor auffährt. Die Reprise nimmt Wellber noch einen Zacken schärfer und damit energiereicher. Das Finale hebt mit einem Moderato an, ehe der Allegro-vivace-Hauptteil beginnt. Wer auf der Suche nach monumentalen Hauptthemen ist, wird hier endlich fündig, wohingegen der Seitengedanke sehr weit zurückgenommen wird. Auffällig ist eine gewisse Häufung an Unisono-Strukturen, die aber alles andere als platt wirken. Wellber legt ein zügiges Grundtempo an, so dass sich Geniestreiche wie die unter Pianissimo-Streichern Dampf machende Pauke in ihrer vollen Schönheit entfalten. Nur im donnernden Finale ist dann wie leider zu oft keine Intensitätssteigerung mehr drin (der Gipfel war schon vorher erreicht worden), aber seine Wirkung beeinträchtigt das kaum – so bricht der Applaus auch gleich los, und der Komponist muß sich in seinem Sarkophag (siehe Foto) nicht umdrehen, zumindest nicht wegen der Aufführung seiner Sinfonie. Ob er, bekanntlich selbst ein ausgezeichneter Organist, das goutiert hätte, was Sadikova in ihrem Stück der Orgel vor- und eingeschrieben hat, steht auf einem anderen Blatt, wird sich aber im irdischen Maßstab nie klären lassen. Roland Ludwig |
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