Demokratisierung des Todes: Henry Purcells Oper „Dido and Aeneas“ in der Leipziger Musikhochschule
In der Historischen Aufführungspraxis strebt man nicht selten nach Purismus in der Form, Werke heute genau so zu spielen wie zu ihrer Entstehungszeit. Bei Henry Purcells Opern-Leuchtturm „Dido and Aeneas“ stieße man mit dieser Strategie freilich an Grenzen. Zum einen ist die Originalpartitur nicht erhalten, wohl aber Textbücher zu frühen Aufführungen, aus denen sich grob erkennen läßt, dass die ungefähre Stunde Musik, die überdauert hat, durchaus nicht das Komplettwerk darstellt, sondern etliches in den Äonen der Zeit verschwunden ist. Zum anderen steht schon in der erhaltenen Partiturfassung, dass einige Tänze und Ritornelli improvisiert werden sollten und es von ihnen folglich gar keine letztgültige Fassung gegeben haben kann. Nun ist stilgerechtes Improvisieren allerdings durchaus auch eine Fähigkeit, die dem Musikstudenten von heute sehr zupaß kommen kann, und zudem läßt sich Kobie van Rensburg, kreativer Chefdenker der an vier Januartagen in der Blackbox, also dem Experimentierstudio, der Musikhochschule aufgeführten Inszenierung von „Dido and Aeneas“, einige kluge Dinge einfallen, wie man diese spätestens 1689 uraufgeführte Oper ins Hier und Jetzt übersetzen und durchaus moderne Konzepte integrieren kann, ohne das Werk zu überfrachten oder gar zu zerstören. Das betrifft zunächst eine interessante Methode, das Publikum in die Aufführungen einzubeziehen. Vorbereitet sind nämlich vier verschiedene Finalszenarien, und das Publikum hat in der Pause die Möglichkeit abzustimmen, welches der vier am jeweiligen Abend zum Tragen kommt. Das beinhaltet durchaus auch Eingriffe ins musikalische Geschehen, denn in einem der vier Szenarien kommt statt Dido ihre Vertraute Belinda ums Leben, die aber in anderen Szenarien nach Didos Tod noch zu singen hat, was als Leiche bekanntermaßen schwierig (wenngleich im heutigen Opernbetrieb nicht völlig unmöglich) wäre. Bis zur finalen Klimax gleicht sich das Geschehen in allen vier Varianten: Die karthagische Königin Dido und der trojanische Prinz Aeneas finden nach anfänglicher Verwirrung zueinander, aber eine Zauberin gönnt den beiden das Glück nicht, und als Aeneas durch einen vermeintlichen Götterboten zur Abreise (und Pflichterfüllung im heimischen Griechenland sowie in Italien) aufgefordert wird, kommt es zur finalen Katastrophe, in der Dido nach klassischer Auffassung Suizid begeht. Variante 2 ist nun aber, dass Aeneas Dido umbringt, in Variante 3 kommt wie erwähnt Belinda statt Dido um, und in Variante 4 sterben sowohl Dido als auch Aeneas. Das Publikum im vom Rezensenten erlebten Premierenabend entscheidet sich für Variante 2: Zwar droht Dido singend mit Konsequenzen für Aeneas, obwohl der seinen Entschluß zur Abreise eigentlich schon wieder rückgängig gemacht hat, aber den tödlichen Stich bekommt sie letztlich von Aeneas versetzt. Die vier Szenarien, quasi eine Art Demokratisierung des Todes, müssen natürlich auch irgendwie begründet werden, und dafür sorgt ein Doppelquartett der Forensiker, das einerseits in diversen Videoeinspielungen archäologische Artefakte aus Karthago zu untersuchen vorgibt, andererseits aber auch live aktiv ist, die Chornummern performt, neben den Forschern auch noch andere Nebenrollen wie die Matrosen von Aeneas’ Schiff oder die Mitglieder des Leichenzugs für Dido verkörpert und ganz nebenbei wunderbar den aktuellen Forschungsbetrieb karikiert, mit all seinen Mitteln um Streben nach neuen Erkenntnissen, dem Zwang zum Publizieren und zum Einwerben von Drittmitteln etc. pp. – das kommt dann jeweils in den Textfeldern auf der Videoleinwand zum Tragen, peripher aber auch im Spiel, etwa in der kurzen Andeutung der „Publikumsbeschimpfung“. Vor der Videoleinwand ist die Bühne eher spartanisch gehalten und besteht eigentlich nur aus einem Laufsteg, vor dem wiederum die sechs Instrumentalisten und Dirigent Ulrich Pakusch, der von der Truhenorgel aus leitet, sitzen. Rechts steht allerdings noch eine Kamera, und vor der positionieren sich die Hexe und ihre beiden Gehilfinnen, wenn sie große Rachepläne schmieden. Die „Kriegsbemalung“, die dieses Trio im 1. Akt live aufträgt, stellt das einzige farbige Element der ansonsten konsequent schwarz-weiß gehaltenen Inszenierung dar – und selbst das stimmt nur zum Teil, denn man sieht die Farbe zwar auf den Gesichtern, aber die Kamera, die diese auf die Leinwand überträgt, ist gleichfalls im Schwarz-Weiß-Modus. Die Kostüme sind klar zugeordnet: Die Forensiker kommen in Weiß, die historischen Figuren dagegen komplett in Schwarz. Im Film treten allerdings nicht nur letztere auf, sondern in rauchvernebelten Traumsequenzen oft auch Dido und in einer kuriosen Szene auch Aeneas und sie: Nachdem die beiden zueinandergefunden haben, reiten sie im Film auf einem Elefanten, den Ohren nach tatsächlich ein Loxodonta africana, mit dem weiland in Karthago zu rechnen gewesen wäre – im Verhältnis der Körpergrößen handelt es sich allerdings um ein ziemlich zwergiges Exemplar. Da der Prolog der Oper musikalisch verloren ist, singt Markus Auerbach als Aeneas statt dessen zunächst „The Queen’s Epicedium“ aus Purcells „Funeral Music For Queen Mary“, und zwar in Latein, bevor es mit der eigentlichen Handlung und in Englisch weitergeht. Keiner der Sänger unterschreitet ein gutes Niveau, Auerbach (wegen der erwähnten ergreifenden Solonummer) und Johanna Ihrig als Belinda ragen vielleicht ein Stück heraus – aber auch letzteres hat strukturelle Gründe: Merith Nath-Göbl als Dido kommt zwar optisch fast ein wenig burschikos herüber, Ihrig/Belinda aber handelt burschikos und singt daher auch ziemlich herausfordernd, wodurch sie stimmlich über weite Strecken viel mehr im Mittelpunkt steht als die eigentliche Hauptfigur, die sich erst in der Todesszene (wie opernüblich singt die Erstochene noch geraume Zeit weiter) sozusagen auch stimmlich emanzipiert. Unter den Instrumentalisten findet sich interessanterweise mit Weronika Sierenberg auch eine Schlagzeugerin – Effekte wie Wind und Regen werden mit entsprechenden Maschinen live umgesetzt. Leontine Beyer und Pauline Schöne an den Violinen brauchen ein wenig, bis sie im 1. Akt musikalisch eine gemeinsame Sprache finden, aber sobald sie das geschafft haben, läßt sich der instrumentale Unterbau wieder so befriedigend anhören, wie das schon im Prolog der Fall gewesen war, den lediglich Pakusch und Theorbistin Anne-Kathrin Tietke dezent untermalt hatten. So rundet sich das Bild von einer interessanten Aufführung, die vom Publikum mit viel Applaus honoriert wird. Die Premiere ist ebenso ausverkauft wie die noch drei an den nächsten Tagen folgenden Vorstellungen, der Regisseur gibt im Programmblatt interessante Hintergründe zu seiner Inszenierungsidee und der Geschichte der Oper preis, und so fällt der einzige diesbezügliche Wermutstropfen, dass man die Handlungsbeschreibung 1:1 aus Wikipedia kopiert hat (ohne das anzugeben), nicht gar zu bitter aus. Roland Ludwig PS: Von der völlig verunglückten Gendervariante im ersten Satz der Komponistenbiographie reden wir aber lieber nicht – der Satz lautet: „Henry Purcell (1659–1695) ist der letzte in der langen Reihe großer englischer Komponist*innen vom Ausgang des Mittelalters bis ins 17. Jahrhundert.“ Roland Ludwig |
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