Sonata Arctica
Talviyö
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Der Titel des Vorgängeralbums, The Ninth Hour, war Programm, denn es handelte sich tatsächlich um den neunten Studiolongplayer von Tony Kakko und seinen Mannen, woraus logisch folgt, dass Talviyö die Ordnungszahl 10 aufweist, diese allerdings nicht im Titel mit sich herumträgt – wer des Finnischen mächtig ist oder ein Übersetzungsprogramm anwirft, stellt fest, dass die Übersetzung „Winternacht“ lautet, die wir in der optischen Gestaltung dann auch in prototypischer Manier vorgesetzt bekommen, im Gegensatz zu etwa finnischen Lyrics: Alleinkreativkopf Kakko bedient sich in den zehn mit Gesang versehenen Stücken durchgängig des Englischen. Aber zumindest ein Songtitel wie „Cold“ weist auf eine entsprechende Wahlverwandtschaft zum Albumtitel hin, wenngleich ebenso wie bei Everfrost mit ihrem Winterider-Album niemand vermuten sollte, hier etwa klirrend kalten, vielleicht gar noch angeschwärzten Metal zu hören zu bekommen. Im Gegenteil: Kakko bewegt sich so gut wie nicht aus der Komfortzone heraus, in der Sonata Arctica seit zwei Dekaden siedeln – aber das muß er ja auch nicht, solange das Ergebnis stimmt.
Die Frage ist nun, ob das letztgenannte Prädikat auf Talviyö zutrifft. Der Rezensent war darob anfangs im Zweifel. So sehr ihm der generelle Ansatz des Openers „Message From The Sun“ samt der Detailausgestaltung zugesagt hat (entrücktes Intro mit Nightwish-verdächtigen Chorarrangements, nach einer halben Minute ansatzloser Speedausbruch an der heutigen Intensitätsgrenze der Band, dazu ein merkfähiger Refrain und viel Spielfreude), so enttäuscht war er vom undynamisch-spannungsarmen Klangbild, das anmutete, als habe jemand eine Wolldecke vor die Boxen gehängt. Die Lösung für dieses Problem entpuppte sich als denkbar einfach: An der Anlage eine Stufe lauter zu drehen machte den Sound nicht nur lauter, sondern auch differenzierter – eine Methode, die eher selten klappt, hier aber einen erstaunlichen Unterschied offenbart. Klar, die Mauern von Jericho kriegt man mit Talviyö nicht klein, aber das muß man auch nicht – es reicht, wenn man die Feinheiten im progressiv angehauchten Melodic Metal der Finnen auch mit der entsprechenden Klangdynamik hinterlegen kann. Und von besagten Feinheiten wimmelt erwartungsgemäß auch die knappe Stunde von Talviyö wieder, die so manches Entdeckungswürdige bereithält, etwa gleich im dem besagten, noch eher geradlinig zum Ziel kommenden Opener folgenden „Whirlwind“, das zwar alle enttäuscht, die sich anhand des Titels hier alles wegwirbelnden Speed im Stile von „Blank File“ oder „Weballergy“ erhofft hatten, aber dafür die Entdeckungsfreudigen mit interessanten Elementen belohnt, was in ähnlicher Form auch auf „Storm The Armada“ zutrifft – abermals kein Sturm, aber nach dem balladesken Auftakt in vielschichtigen und gekonnt arrangierten Midtempo-Metal mündend, an dem man lange seine Freude haben kann. Dazwischen steht das erwähnte „Cold“, eine von drei Singleauskopplungen, allerdings alles andere als Bäume ausreißend – solider Stoff, mehr aber nicht. Aus dem Rahmen hingegen fällt „The Last Of The Lambs“ – leider negativ: Kakko versucht hier irgendwie Düsterrock zum Laufen zu kriegen, wofür Finnen eigentlich ja ein gutes Händchen haben, nur offensichtlich er nicht. Der Song schleppt sich eher langweilig durch seine viereinhalb Minuten und wirkt wie ein Outtake von Saviour Machine, das Eric Clayton bewußt nicht verwendet hat (dazu würde sogar der Songtitel passen). Dann lieber „Who Failed The Most“, der zweite Singletrack und „Cold“ deutlich in den Schatten stellend: eingängiger und anspruchsvoller zugleich, außenherum geradlinig, mit einem verschleppten Zwischenteil samt kinderchorartig anmutenden Passagen. Macht Spaß, den zu hören – der potenziert sich aber im folgenden Instrumental „Ismo’s Got Good Reactors“, melodisch einmal vom Westen Asiens in den Osten des gleichen Kontinents reisend und in letzterem lange verweilend, was die melodischen Strukturen angeht, dazu Drummer Tommy Portimo endlich mal wieder fast ungehemmt von der Leine lassend. Da sprüht die Spielfreude nur so aus den Siliziumatomen, da will man zu Hause um seinen Schreibtisch rennen oder andere Ausdrücke der Begeisterung finden, wozu vielleicht auch gehört, mal wieder Ecliptica oder, nein, und Silence hervorzukramen und andächtig in den Player zu werfen. Schlägt „Demon’s Cage“ dann gleich nochmal in diese Kerbe? Nein, trotz Portimos abermals den Durchschnitt übertreffender Schlagzahl entspinnt sich wieder „nur“ vielschichtiger Melodic Metal, allerdings in den Hauptteilen mit einer für diese Band ungewöhnlichen Grundhärte aus den knochentrockenen Gitarren. Schon das einleitende Keyboardmotiv hat den Finnenmetalhistoriker an Amorphis erinnert, und so nahe an ihren Landsleuten waren Sonata Arctica zumindest im dem Rezensenten bekannten Teil ihres Schaffens noch nie, wenngleich die amorphis-typischen Siebziger-Einflüsse hier fehlen, die Grundstimmung trotz dramatischen Sujets eher eine positiv geladene ist und allein schon Kakkos Gesang ausreicht, um festzustellen, welche Band wir hier vor uns haben. Siebziger-Injektionen gibt’s dafür in Gestalt einer feisten Hammondorgel in der dritten Single „A Little Less Understanding“, auch mal kurz das herbe Riffing, aber leider auch einen nicht so richtig einfallsreichen Refrain, wenngleich er durchaus eingängig ausfällt und auch das schöne Hauptsolo, abermals einen „historischen“ Keyboardsound auffahrend, noch was rausreißt, ebenso wie der frenetische Instrumentalpart im Finale, der gerne noch länger hätte währen dürfen. Mit dem Siebeneinhalbminüter „The Raven Still Flies With You“ folgt das Epos der Scheibe, eine völlig schräge Nummer, die bisweilen an eine basischere Nightwish-Version erinnert und von Spieluhr und Zirkusmarsch bis zu metallischer Geradlinigkeit, von seltsamen Breaks bis zu kernigem Grundriffing eine breite Palette auffährt, alles mit einem markanten Refrainthema zusammenhält, harmonisch nicht selten Dur- statt Moll-Auflösungen wählt und definitiv etliche Durchläufe zur Erschließung braucht. Hat man sich dann aber nach sechseinhalb Minuten schon auf ein ätherisch waberndes Outro eingestellt, kommt statt dessen ein monotones Holzblock-Marsch-Tockern samt nochmaliger ostasiatischer Anklänge im Hintergrund, das den sinistren Eindruck dieser Nummer nochmal unterstreicht. Im kompletten Gegensatz dazu steht die sanfte sechsminütige Ballade „The Garden“, die nur leicht ins psychedelisch-blumenbunte, wahlweise auch spacige Areal rüberschielt und einmal mehr Kakkos gutes Händchen für die Gestaltung sanfter Songs unter Beweis stellt, so dass man sich auf die angekündigten Akustikalben durchaus freuen darf. Derweil kann Talviyö erwartungsgemäß nicht mit den ersten beiden Alben, die nach wie vor Klassikerstatus einfordern dürfen, mithalten, ordnet sich aber auf einem guten Platz in der zweiten Reihe des Bandschaffens ein und weiß mit neun seiner elf Songs durchaus hoch zu punkten, was als Anlaß für die Freunde progressiv angehauchten melodischen Metals, sich dieses Werk in die Sammlung zu stellen, eigentlich ausreichen sollte.
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | Message From The Sun | 4:06 |
2 | Whirlwind | 6:32 |
3 | Cold | 4:29 |
4 | Storm The Armada | 5:08 |
5 | The Last Of The Lambs | 4:22 |
6 | Who Failed The Most | 4:44 |
7 | Ismo’s Got Good Reactors | 3:43 |
8 | Demon’s Cage | 4:58 |
9 | A Little Less Understanding | 4:16 |
10 | The Raven Still Flies With You | 7:39 |
11 | The Garden | 6:17 |
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Besetzung |
Tony Kakko (Voc, diverse Instrumente)
Elias Viljanen (Git)
Henrik Klingenberg (Keys)
Pasi Kauppinen (B)
Tommy Portimo (Dr)
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