Eisler, H. (Gruber, HK u. a.)

Couplets, Balladen, Orchestersuiten, Die letzte Nacht


Info
Musikrichtung: Klassische Moderne

VÖ: 07.01.2022

(Capriccio / Naxos / CD / 2 DDD / 1996-98 / Best. Nr. C5434)

Gesamtspielzeit: 127:12



SOUNDTRACK ZUR WELTREVOLUTION

Balladen und Couplets u. a. auf Texte von Kurt Tucholsky und Berthold Brecht, Orchestersuiten aus Filmmusiken und, erstmals eingespielt, die Bühnenmusik zum Epilog von Karl Kraus „Die letzten Tage der Menschheit“ – das Label Capriccio öffnet auf dieser Doppel-CD eine weitere Hanns-Eisler-Schatztruhe des umstrittenen Gebrauchs-Kunst-Musik-Komponisten.

Die Veröffentlichung dieser Konzertmitschnitte ist nicht nur grundsätzlich eine Großtat fürs Repertoire. Denn was der Österreichische Rundfunk hier 1996 und 1999 in bester Tonqualität aufgezeichnet hat, ist Dank der versammelten Interpreten-Kompetenz auch musikalisch und künstlerisch ein Hochgenuss – sofern man bei den oft bitterbösen bis abgründigen Texten, die Hanns Eisler (1898-1962) hier auf unwiderstehliche Weise in Musik gesetzt hat, von Genuss sprechen möchte.
Denn Eisler, der Kommunist und Sozialist, der Schönbergschüler und Neue-Musik-für-die-Massen-Komponist, hat in seinen Liedern, auch Dank berufener Autoren, kein Blatt vor den Mund genommen. Wenn in der eröffnenden „Ballade von der Krüppelgarde“ (1930) die Versehrten des 1. Weltkrieges in einem gruseligen Beinahe-Totentanz vorbeidefilieren, dann ist damit zugleich ein Vorzeichen für das ganze rund zweistündige Programm gesetzt.

Der Komponist, der sich als eminent politischer Künstler und Kämpfer für die Arbeiterklasse verstand, mischt in seinem Werk U- und E-Musik auf eine Weise, die an Kurt Weill erinnert - ein Soundtrack für die sozialistische Weltrevolution.
Gerade die Balladen und Couplets wirken wie Gegenstücke zu den grotesken Szenen und entlarvenden Porträts eines Otto Dix oder George Grosz: Schwarzgalliger Humor, Moralpredigt und ätzende Polit-Satire werden wahlweise im Ton flotter Jazz-Arrangements, augenzwinkernd biederer Volksmelodien oder parodistischer Eiapopeia-Gemütlichkeit aus dem Biergarten dargeboten.
Eilser findet selbst dann noch einen scheinbar unbekümmerten, eingängigen Ton, wenn vom Ungeheuerlichsten die Rede ist, zu dem das Ungeheuer Mensch eben fähig ist. Wobei: Die knackigkurzen „Palmström“-Lieder auf Gedichte von Christian Morgenstern zeigen, dass Weill auch seinen Lehrer Schönberg draufhatte und mit zwölf Tönen augenzwinkernd zu jonglieren verstand, ohne elitär zu wirken. Und umgekehrt: Eislers Filmmusik konnte auch in eine Orchestersuite eingehen und als „angewandte Kunst“ den bürgerlichen Konzertsaal entern. Das nennt sich wohl Dialektik.

Ganz wesentlichen Anteil an der aufklärerisch unterhaltsam-erschütternden Wirkung haben die erstklassigen Interpreten: Die österreichischen Neue-Musik-Spezialisten von den Ensembles „die reihe“ oder „Klangforum Wien“ wissen, wie man Eislers Partituren elektrifiziert und mit lässiger Präzision zum Knistern bringt.
Die vokale Seite bei den Liedern und Couplets verantworten HK Gruber, selbst Komponist und Chansonnier mit kongenialem Faible für die Weill-Eisler-Connection, sowie der Schauspieler Wolfram Berger.
In der Personalunion von Dirigent und Sänger-Schauspieler trumpft Gruber bei den Liedern mit einer sensationellen Wandlungsfähigkeit auf und bleibt den Texten keine Nuance schuldig, bringt Witz und Aberwitz, lockeren Plauderton und Berserkertum auf den Punkt.
Auf nämlichen Niveau agiert auch Berger als Sprecher und Erzähler in „Die letzte Nacht“, dem Epilog von Kraus‘ semi-dokumentarischen Kriegs-Endspiel. Wie Berger blitzschnell apart wienernd oder sonstwie dialektisierend verschiedenste Figuren kreiert, ist eindrucksvoll. Beklemmend, wie das gesprochene Wort und Eislers eher sparsame Musik hier mit dem Absurd-Bösen und Apokalyptischen eine unheimliche Synthese eingehen. Obschon der dumpfe Militarismus und Zynismus der Akteure, den Kraus inszeniert, schwer erträglich ist, vermag man sich als Zuhörender den Szenen kaum zu entziehen. Das ist erschreckend zeitlos und wirkt heute weniger wie eine Rückschau denn prophetisch.

Auch Dank des Begleittextes von Hannes Heher ein maßstäblicher Eisler-Digest!



Georg Henkel



Trackliste
Ballade von der Krüppelgarde op. 18 Nr. 2; Die weinenden Hohenzollern; Wohltätigkeit op. 22 Nr. 2; Rückkehr zur Natur; Ballade von den Säckeschmeißern op. 22 Nr. 4; Ideal und Wirklichkeit; Ballade vom Nigger Jim op. 18 Nr. 6; Stempellied op. 28 Nr. 6; Das Lied vom SA-Mann; Schweyk im zweiten Weltkrieg (Auszüge aus der Bühnenmusik); Die Rundköpfe und die Spitzköpfe op. 45 (Auszüge aus der Bühnenmusik); Höllenangst (Auszüge aus der Bühnenmusik); Eulenspiegel oder der Schabernack über Schabernack (Auszüge aus der Bühnenmusik); O Fallada, da du hangest; Palmström-Lieder; Orchestersuiten Nr. 2-4; Die letzte Nacht op. 32 Nr. 2
Besetzung

Klangforum Wien
Ensemble "die reihe"

Wolfram Berger, Sprecher

HK Gruber, Chansonnier & Leitung


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