Orphaned Land

Unsung Messiahs & Dead Prophets


Info
Musikrichtung: Oriental Metal

VÖ: 26.01.2018

(Century Media)

Gesamtspielzeit: 63:39

Internet:

http://www.centurymedia.de
http://www.orphaned-land.com


Nach dem Kna’an-Theaterprojekt, das Orphaned-Land-Sänger Kobi Farhi gemeinsam mit Amaseffer-Drummer Erez Johanan und unter Beteiligung diverser weiterer Bandmitglieder realisierte und das im gleichnamigen Album die 13 Stücke der Theatermusik bot, legen die Miterfinder des Oriental Metal nun ihr sechstes reguläres Studioalbum vor und machen schon mit dem Opener „The Cave“ klar, dass sie nicht gewillt sind, ihren Platz an der Sonne zu räumen. Selbige Nummer koppelt kernigen Metal, orchestrale Elemente, Chorpassagen und natürlich die orientalischen Einflüsse zu einem Ganzen, das weit mehr darstellt als nur die Summe seiner Einzelteile – ein Kunststück, das den Israelis in unnachahmlicher Weise während fast der reichlichen Stunde Spielzeit dieses Albums gelingt, wenngleich nicht immer auf dem gleichen Level.
Aber Orphaned Land wären nicht Orphaned Land, würden sie sich auf ihren verdienten Lorbeeren ausruhen. Sie verzichten einerseits darauf, Stücke der Theatermusik noch einmal in ihrem eigenen Bandkontext einzuspielen (ob zumindest hier und da die eine oder andere Idee adaptiert, übernommen oder weiterentwickelt wurde, dürfen Analytiker ergründen), und sie weiten den von ihnen bestrichenen Kulturkreis immer mehr aus, ohne ihre eigenen Wurzeln zu vergessen, womit sie den völkerverständigenden Charakter einmal mehr auf die glücklichste Weise klarmachen. Auf der vorliegenden Scheibe geht die Ausbreitung einmal quer übers südöstliche Mittelmeer, und zwar nach Griechenland: Zwar ist der Einsatz der dort beheimateten Bouzouki im Orphaned-Land-Kontext nichts prinzipiell Neues – man konnte das Instrument etwa auch auf dem 2004 erschienenen Drittling Mabool - The Story Of The Three Sons Of Seven hören. Aber der seit 2014 zur Band gehörende Zweitgitarrist Idan Amsalem fungiert im „Nebenjob“ als Bouzouki-Spieler, und so wurden diesem Instrument auf dem neuen Album tragendere Rollen zugewiesen als früher, wenngleich die Band klug genug ist, es mit diesem Stilmittel nicht zu übertreiben. Das heißt, dass nicht alles mit Bouzouki-Klängen zugepflastert wird und auch dann, wenn das Instrument zum Einsatz kommt, es durch Mixer Jens Bogren in differenzierter Weise eingemischt wurde, an den richtigen Stellen in den Vordergrund tretend, aber durchaus bisweilen auch nur mit Hintergrundfunktion. Der Griechenland-Bezug beschränkt sich freilich nicht aufs Instrumentale: Die Textzeilen von „Poets Of Prophetic Messianism“ stammen aus Platos „Die Republik“ und werden von Kobi Farhi auch in Altgriechisch gesungen, wofür sich die Band ebenso linguistischen Rat einholte wie für die arabischen Elemente. Dazu tritt eine etwas überraschendere Einflußwahl: In „The Manifest – Epilogue“ covern sie Victor Jara, allerdings in Kombination mit hebräischen Textzeilen. Erstaunlicherweise funktioniert das im hier gegebenen Kontext ähnlich gut wie so manche weitere Kombination. Seltsamerweise wirkt das Judah-Halevy-Cover „Yedidi“, gleichfalls hebräisch betextet, wie eine Konzessionsentscheidung an die Herkunft der Band – bei nahezu jeder anderen Combo wäre eine derart gekonnte Jew-Rock-Nummer ein Highlight, im Kontext von Orphaned Land aber verblaßt sie vor dem Einfallsreichtum der Eigenkompositionen und kann auch ihre Funktion als zusätzlicher Farbtupfer nicht so gut erfüllen wie das erwähnte Plato-Stück, das zwar aus dem kompositorischen Schaffen Orphaned Lands selbst stammt, aber als zurückhaltende Chorhalbballade mit den erwähnten griechischen Einflüssen und einem sehnsuchtsvollen Cello, das mit einer ähnlich sehnsuchtsvollen Sopran-Vokalise in Beziehung tritt, aus den restlichen Stücken hervorsticht und die unmittelbar davor stehende Enttäuschung „Like Orpheus“ wettmacht. Selbige Nummer beginnt nämlich mit einem gigantisch großen Hauptthema, das einen Klassiker ähnlichen Kalibers wie „The Cave“ erwarten läßt – aber das Versprechen löst die Band nicht ein, sondern erschafft einen „nur“ guten, aber nicht weltbewegenden Song, den auch Gastsänger Hansi Kürsch nicht mehr entscheidend erheben kann. Der Terminus „Enttäuschung“ ist hier freilich relativ zu sehen: Verwöhnt vom besagten Opener und einigen weiteren starken Beiträgen möchte man natürlich mehr auf diesem Level hören, das grundsätzlich ein gutes Stück höher liegt als vielleicht erwartet. Auch das Jammern, dass „Left Behind“, eine weitere Fremdkomposition (von Moran Magal, allerdings interessanterweise mit einem bandeigenen Text versehen), etwas unmotiviert endet und man das Gefühl hat, die zugrundeliegende Idee sei noch nicht erschöpfend behandelt, findet auf einem enorm hohen Niveau statt.
„Left Behind“ markiert zugleich ein Beispiel für ein weiteres Kuriosum: Die Band, mit ihrem kulturverbindenen Charakter generell und textlich durch die Behandlung revolutionärer Charaktere auf dieser Scheibe im Speziellen von Schubladendenkern und Hardlinern mit großer Skepsis beäugt, gönnt sich den Spaß, einzelne Worte selber zu zensieren – und zwar sowohl mit geschwärzten Stellen in den Textabdrucken des Booklets als auch mit Piepsern in den entsprechenden Momenten auf der CD. Auf so eine Idee muß man auch erstmal kommen – das hat einen ähnlichen subversiven Charme wie der Aspekt, dass sich Afroamerikaner untereinander mit dem ursprünglich pejorativ konnotierten Terminus „Nigger“ titulieren. Und die Band ist klug genug, es auch mit diesem Witz nicht zu übertreiben und ihn genau so dosiert einzusetzen, dass man ihn einerseits nicht überhören kann, weil er eben nicht nur einmal kommt (und daher auch nicht als produktionstechnischer „Fehler“ an der besagten Stelle interpretierbar ist), man seiner andererseits aber auch nicht überdrüssig wird oder er gar die Stimmung der besagten Songs nachhaltig beeinträchtigen würde. Da waren also abermals Könner am Werk.
Würde man die komplette Gastmusikerliste hier einfügen, so stiege die Länge des Reviews ins Unermeßliche – das Booklet zählt auch alle Sänger des liebevoll Hellscore Choir genannten Chores auf, und dazu kommen noch mancherlei zusätzliche Instrumentalisten. Explizit in der Tracklist aufgeführt sind die drei international bekannten Gäste, neben dem erwähnten Hansi Kürsch noch Steve Hackett als Märchenonkel in „Chains Fall To Gravity“ und Tomas Lindberg, der „Only The Dead Have Seen The End Of The War“ mit seinem markanten Gekreisch eine gehörige Schlagseite in Richtung frühen Melodic Death Metals und damit naturgemäß auch seiner Band At The Gates verleiht – aber auch hier funktioniert die Kombination mit den ureigenen Elementen Orphaned Lands perfekt, und so wird diese Nummer zum zweiten absoluten Glanzlicht neben „The Cave“. Wäre das ganze Album auf diesem Level, man müßte wohl von der Platte des Jahres sprechen – so bleibt immer noch eine sehr hohe Wertung und der dringende Tip an alle, die sich über die Eindimensionalität des angloeuropäischen Metals beschweren, hier ein bis zwei Ohren zu riskieren. Wer Glück hat, findet vielleicht noch ein Exemplar der Special Edition, die auf einer zweiten CD die acht Songs des Orphaned Land & Friends 25th Anniversary-Werkes enthält, die es bisher nur als 4-Single-Box oder Download gab (der Rezensent zählte nicht zu den Glücklichen).



Roland Ludwig



Trackliste
1The Cave8:10
2 We Do Not Resist3:24
3 In Propaganda3:33
4 All Knowing Eye4:28
5 Yedidi2:33
6 Chains Fall To Gravity9:29
7 Like Orpheus4:34
8 Poets Of Prophetic Messianism2:56
9 Left Behind3:11
10 My Brother‘s Keeper4:42
11 Take My Hand6:03
12 Only The Dead Have Seen The End Of The War5:43
13 The Manifest - Epilogue4:45
Besetzung

Kobi Farhi (Voc)
Chen Balbus (Git, Saz)
Idan Amsalem (Git, Bouzouki)
Uri Zelha (B)
Matan Shmuely (Dr, Perc)



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