Die Letzten ihrer Art: Das Gewandhausorchester spielt Wagner und Bruckners Neunte
Die Sinfonien Anton Bruckners im Konzert mit Werken Richard Wagners zu koppeln besitzt musikhistorisch zweifellos große Plausibilität, führt man sich vor Augen, in welchem Maße der Österreicher den elf Jahre älteren Leipziger verehrte, was dann hier und da auch zu direkten Zitaten führte, am markantesten in der Urfassung der Dritten Sinfonie. Das strukturelle Problem besteht freilich darin, welche Werke Wagners man für eine solche Kopplung denn wählen sollte – eigenständige Orchesterkompositionen gibt es von ihm ja kaum. Die Programmplanungsfraktion des Leipziger Gewandhauses findet für die beiden im Dezember 2018 anstehenden Grossen Concerte jeweils eine originelle Lösung. In der Woche vor Weihnachten liegt der Fokus auf den jeweils letzten Kompositionen: Bruckners Neunter wird Musik aus Wagners Parsifal beigesellt, beides übrigens Werke, mit denen die Komponisten mehr als ein Jahrzehnt gerungen haben, wobei Wagner bekanntermaßen fertig wurde, Bruckner aber nicht. Aus Parsifal bietet sich für eine Wiedergabe im Konzertkontext zunächst das Vorspiel zum 1. Akt an, mit dem das Programm beginnt. Die Streicher legen dabei bereits viel Ruhe in ihre Einleitung, auch wenn hier noch eine gewisse Findungsphase herrscht. Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons wählt ein sehr weit unten liegendes Tempo und wird mit einer sehr stimmungsvollen Entwicklung belohnt, die dann nach der Generalpause auch die quasi absolute Sicherheit genießt, die man an diesem Orchester liebt. Interessanterweise läßt sich der oft postulierte Wagner-Einfluß auf Bruckners Schaffen durchaus auch in der Gegenrichtung feststellen, wenn man sich hier die Blech- und Flötenchoräle mal genau anhört und Bruckners Dritte im Ohr hat. Trotz der anhaltenden Bedächtigkeit wirken besagte Choräle wie ausgemeißelt, aber nicht mit dem großen Meißel, sondern mit dem kleinen Restauratorenmodell. Nelsons‘ Talent, Welten zu vereinen, zeigt sich, wenn er das große Tutti völlig entspannt mit einer Hand am Geländer des Dirigentenpodests formt, auch wenn er in der laaangsaaamen Rückführung auch wieder seine andere typische Haltung, die zum rechten Winkel gekrümmte, annimmt. Dass hier Menschen spielen, zeigt ein Blecheinsatzwackler gegen Ende, aber die Spannungsgestaltung gelingt abermals vorzüglich. Als zweites Stück aus Parsifal erklingt der Karfreitagszauber aus dem 3. Akt. Die Weltenvereinigung zeigt sich hier ganz anders, aber nicht minder beeindruckend: Locker und doch mit einer gewissen Grundschwere zu spielen, diesen Spagat schaffen nur die ganz Großen. In den Tutti reckt Nelsons sich hier nach oben und reißt die Arme hoch, als wolle er die gewünschte Größe andeuten, und er bekommt sie auch geliefert, wobei die verschlungenen kammermusikartigen Pfade aber genauso überzeugen. Das Tempo liegt abermals weit unten, und wenn da etwa eine Oboe allein in ihr Instrument haucht, so dass man es kaum hört, dann tritt auch die angestrebte zauberische Stimmung ein. Dass ausgerechnet der Schlußakkord wackelt, nimmt man da nicht weiter schwer, zumal das Ende des Spannungsbogens trotzdem noch den versprochenen Topf voll Gold birgt. Finales Kuriosum: Konzertmeister Frank-Michael Erben setzt sich nach Nelsons‘ drittem Abgang noch einmal hin, will also offensichtlich noch einen Vorhang, aber das Publikum hört wie auf Kommando auf zu klatschen und will ebenjenen also nicht (obwohl er der Leistung zweifellos angemessen gewesen wäre). Für Anton Bruckners 9. Sinfonie d-Moll WAB 109 wählen die Programmplaner die üblich gewordene dreisätzige Fassung – der Komponist war bekanntlich über der Arbeit am letzten Satz verstorben, und das vorhandene Material wurde so stark verstreut, dass eine Rekonstruktion äußerst schwierig ist. Obwohl ergänzte Fassungen existieren, werden sie im Gegensatz zu denjenigen von Mahlers Zehnter nur sehr selten gespielt, und auch Bruckners im Gefühl des nahenden Todes geäußerter Wunsch, man möge sein Te Deum als vierten Satz spielen, falls er jenen nicht mehr vollenden könne, erlebt kontroverse Diskussionen und nur selten eine Erfüllung. Mit einer reichlichen Stunde Länge haben die drei vollendeten Sätze freilich auch schon gewaltiges Format, und da das extrem jenseitig geprägte Adagio den passendsten Grabstein für den tiefreligiösen Bruckner darzustellen scheint, ist die Aufführungspraxis, ebenjenes als letzten Satz zu belassen, die allgemein übliche geworden. Im „Feierlich. Misterioso“ überschriebenen 1. Satz wird schnell klar, dass sich Andris Nelsons und das Gewandhausorchester diesmal einer Spezialstrategie widmen, was die Blechbläser angeht. Erinnern wir uns an die 6. Sinfonie zwei Wochen zuvor (siehe Rezension auf diesen Seiten), so fiel auf, dass die Blechbläser in den Tutti etwas „vorschmeckten“. Der Rezensent sitzt exakt auf dem gleichen Platz wie damals, auch die Orchesteranordnung ist natürlich die gleiche, und im markanten Hornthema könnte man die verringerte Blechstrahlkraft auch noch darauf schieben, dass die Schalltrichter genau nach der anderen Richtung abstrahlen – aber bei Trompeten, Posaunen und Tuba fällt dieser Aspekt weg. Tatsächlich: Das Blech dominiert die Tutti längst nicht so stark wie vor zwei Wochen, sondern fügt sich quasi idealtypisch ins große Ganze ein – es strahlt immer noch, aber es überstrahlt nicht alles andere. So siedelt mancherlei in diesem Satz nicht weit vom Referenzcharakter entfernt, auch wenn da mal ein Horn wackelt, wie es gleich in der Einleitung passiert. Die Lieblichkeit im Seitenthema ist da, aber Nelsons übertreibt sie nicht, wird in den kammermusikalischen Passagen mit traumwandlerischem Zusammenspiel belohnt, beläßt die Ausbrüche planmäßig noch mit Reserven, bekommt eine enorme Spannung in die dem großen Zusammenbruch folgende Passage über dem Pauken-Streichelteppich – und das Satzfinale gleichermaßen extrem wuchtig und extrem transparent zu gestalten setzt dem bisher Gehörten die Krone auf. Referenz? Definitiv! Das Scherzo bringt das nächste Kunststück hervor – ein fast maschinell anmutendes Räderwerk, das doch nicht maschinenkalt klingt, ist sehr schwer zu realisieren, aber Nelsons und seine Musiker schaffen es, auch wenn sie den Wunsch des Komponisten „Bewegt, lebhaft“ nicht ganz wörtlich nehmen. Witz ist da, wo er gebraucht wird, das Gezupfe muß für die angestrebte Wirkung nicht mal übermäßig heftig ausfallen, und dass die Tutti mal wieder richtig schön transparent ausfallen, bedarf kaum noch einer Erwähnung. Das Trio erfüllt den „Schnell“-Wunsch des Komponisten dann mit Leichtigkeit wie Leichtfüßigkeit, und in der Reprise versieht Nelsons die Maschine mit noch lieblicheren Zügen, entlädt die in ihm selbst angestaute Spannung vor der letzten Wiederholung des motorischen Themas mit einem großen Sprung auf dem Podest und läßt auch in puncto Monumentalität des Satzschlusses keine Wünsche offen. Das Hauptthema des Adagios gehört zu den tiefempfundensten Momenten der Musikgeschichte überhaupt – die totale Entrückung wird an diesem Abend nur dadurch verhindert, dass einige Erkältete im Publikum während der dafür eigentlich locker ausreichenden Pause zwischen den beiden Sätzen nicht mit dem Auswickeln ihrer Hustenbonbons fertiggeworden sind und sich diese Aktivität daher in die erste Minute des dritten Satzes hinein fortsetzt. Das hindert das Orchester natürlich nicht an der kongenialen Entfaltung des Düsterbombasts, auch wenn das Blech einsatzseitig bisweilen an der Ideallinie vorbeischrammt und auch die Wagnertuben vor der Wiederkehr des Hauptthemas mal wackeln, nachdem sie zuvor ihren großen Choral in unübertrefflich schöner Manier gestaltet haben. Nelsons schafft es ein weiteres Mal, einen sehr langsamen Tempobereich nie schleppend wirken zu lassen, obwohl er zudem auch noch die diversen Generalpausen sehr weit ausreizt und mit lange stehender Spannung (auch dank nur weniger Störgeräusche) belohnt wird, wobei er selbst mit einem intensiven Umblättern einen kuriosen Spannungsauflöser in einer solchen Pause verursacht. Die Steigerungen und diversen Schrägheiten arbeitet er zielgerichtet heraus, und nachdem die Hörner am Übergang ins Finale nochmal kurz gewackelt haben, gelingen ebenjene letzten Minuten in einer an Feierlichkeit kaum zu überbietenden Wiedergabe zum Dahinschmelzen und erzeugen eine eigentümliche Art von Spannung – intensiv, aber nicht unerträglich (auch letzteres kann Nelsons, wenn es darauf ankommt, etwa bei Schostakowitsch). Diese Spannung hält sich enorm lange, bevor sie großem Jubel des Publikums weicht. Zum Schluß gibt es abermals ein Kuriosum, diesmal aber reziprok: Konzertmeister Frank-Michael Erben beendet die Versammlung auf der Bühne, nachdem er das offenbar mit Nelsons vor dessen fünftem Abgang so abgesprochen hat – das Publikum hätte aber hier gerne noch mindestens einen weiteren Vorhang gespendet. Spitzenleistungen von Weltformat verdienen nun mal eine entsprechende Würdigung. Roland Ludwig |
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