Von Weihnachten in den Frühling: Jianguo Lu, das Neue Salonorchester Leipzig und Gerhard Noetzel in der Leipziger Nikolaikirche
Das deutsch-chinesische weihnachtliche Konzert des Neuen Salonorchesters Leipzig mit Jianguo Lu hat mittlerweile nicht nur Tradition, sondern auch eine feste Fangemeinde, so daß auch 2024 die Nikolaikirche sehr gut gefüllt ist. An der Grundstruktur hat sich im Vergleich zum Vorjahr nichts geändert, an der Besetzung aber schon: Das Salonorchester kommt diesmal als Streichtrio plus Harfe daher, und an den Tasteninstrumenten sitzt nicht Markus Kaufmann, sondern Gerhard Noetzel. Das Konzept aber ist identisch: chinesische und europäische Kompositionen, mal mehr, mal weniger weihnachtlich, mit chinesischen und europäischen Instrumenten. „Frühlingspoesie“ heißt das eröffnende chinesische Stück, und man wundert sich im ersten Moment, ein Werk mit so einem Sujet in einem weihnachtlichen Konzert zu hören, bis einem einfällt, daß in der Krippe ja auch schon der Weg gen Ostern vorgezeichnet ist. Außerdem ist der Tag mit dem frühesten Sonnenuntergang schon wieder Geschichte, und nach hinten heraus nimmt die Tageslänge seit diesem Tag schon wieder zu, wenngleich die absolute Tageslänge noch eine reichliche Woche lang sinkt, bevor es auch lichttechnisch wieder gen Frühling geht. Noetzel gesellt sich hier als Pianist zum Salonorchester, und dazu tritt Lu mit seiner Erhu, also der chinesischen Geige, die in diesem Stück für den Poesiefaktor zuständig ist, während die Streicher teils pizzikato spielen, teils ebenfalls breite poetische Epik beisteuern, wobei das Grundtempo durchaus recht zügig ausfällt. „Die farbige Wolke läuft dem Mond hinterher“ bietet dann den schlagenden Beweis, daß Wiederholungstäter im Publikum sitzen. Bratscher und Moderator Henry Schneider wechselt hier nämlich an eine Nyckelharpa, und prompt kommt die Bemerkung „Das gab’s letztes Jahr auch schon“ von der linken Nachbarin des Rezensenten. Erhu und Nyckelharpa ergänzen sich klanglich gut, der Lauf der Wolke ist zwar ein eher gemächlicher Gang, aber doch mit zielbewußtem Vorwärtsdrang, der in einen hochspannenden Ausklang mündet. Mit Claude Debussys Tänzen für Harfe und Streicher wird das Repertoire erstmals europäisch; von den zwei Teilen erklingt der erste, der Sakrale Tanz, der freilich rhythmisch nicht selten so ungeradlinig ausfällt, daß man quasi permanent über seine eigenen Füße stolpern würde, wollte man sich entsprechender Bewegungsmuster bedienen. Als Konzertstück wirkt die Pendelei zwischen verschiedenen rhythmischen Motiven aber durchaus unterhaltsam, auch wenn die Stimmungswechsel oft recht abrupt erfolgen. Und dann legt Harfenistin Laia Barberà noch einen enorm tiefgründigen Schluß hin.
Noetzel ist unterdessen auf die Empore gestiegen und intoniert an der großen Ladegast-Sauer-Eule-Orgel die Choralimprovisation „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ op. 65/10 von Sigfrid Karg-Elert, meist eher bedächtig, aber mit interessanter Dynamik, die durch den geschickten Schweller-Einsatz wirkungsvoll untermalt wird. Fast attacca geht das Stück in „Klang ferner Harmonie“ über, geschrieben von Lu und dargeboten von ihm auf der Knochenflöte Xun zur Noetzelschen Begleitung an der Orgel – eine Kombination, die mit Kaufmann schon 2023 bestens funktioniert hat und auch 2024 bestens funktioniert, zumal die Xun oft tatsächlich so klingt, als ob sie irgendwo ganz weit entfernt gespielt wird. Dazu treten fast vokalisenartige Elemente und eine zumeist dunkle Orgelgrundierung. Das absolute Meisterstück kommt aber erst noch, und zwar in Gestalt von Bachs „Ich steh an deiner Krippen hier“ mit der Erhu als Melodieinstrument zur Orgelbegleitung. Der Emotionenfaktor liegt hier irgendwo in der Nähe der Spitze des benachbarten Universitätshochhauses, aber das ist so einer der Momente, die man mit Worten ohnehin nicht mehr beschreiben kann. Auszüge aus Antonio Vivaldis „Jahreszeiten“-Konzerten bieten sich für gewisse Perioden natürlich immer an, diesmal logischerweise der Winter, der in der sternenklaren Nacht mit Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt zumindest zu erahnen ist. Zwei der drei Sätze erklingen an diesem Abend, zunächst der zweite mit Schneider an der Singenden Säge, die diesmal den Job übernimmt, Schwingungen mit gewisser Ähnlichkeit zu elektroakustischen Instrumenten wie dem Ondes Martenot zu erzeugen (das hatte 2023 die Xun getan), dann der dritte in „normaler“ Besetzung, also Streichtrio plus Harfe plus Noetzel am Cembalo. Danach gibt es einen Hochzeitsklassiker, nämlich Charles Gounods auf Bach zurückgehendes „Ave Maria“ in der Fassung mit Erhu als Melodieinstrument plus Salonorchester – nicht an den Emo-Faktor von „Ich steh an deiner Krippen hier“ heranreichend, aber trotzdem interessant. Das Programmheft weist danach „Der Schwan“ von Camille Saint-Saëns in einer Fassung für Singende Säge und Salonorchester aus, aber dieses Stück fällt aus nicht bekanntgegebenen Gründen weg – statt dessen kommt gleich nochmal Bach, nämlich „Großer Herr und starker König“, Nr. 8 aus der ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums. Nun ist freilich kein Sänger am Start, also übernimmt Cellist Wolfram Stephan die Gesangssololinie, Noetzel pianiert, Violinist Sebastian Ude wechselt ans Saxophon und Schneider an die Trompetengeige, eines aus der Sammlung seiner obskuren Instrumente, bei dem man freilich immer noch das Gefühl hat, die Möglichkeiten, die dieser Instrumenten-Wolpertinger bieten könnte, seien irgendwie noch nicht ausgereizt. Dominant genug ist er im Verbund mit dem Saxophon freilich trotzdem, um den eigentlichen Solisten, also den Cellisten, hier klanglich zumindest phasenweise ins Abseits zu stellen. Nach so viel europäischer Musik ist es wieder Zeit für eine chinesische Komposition, abermals ein Eigenwerk von Lu und erneut eines, das in der Jahreszeit vorausweist – es heißt nämlich „Sanft weht eine Frühlingsbrise“. Deren Wehen bildet dann auch das Signal, die Kürbisse auszusäen, um dann wiederum ein halbes Jahr später aus den Früchten nicht nur Kürbissuppe herstellen zu können, sondern auch die Kürbisflöte Hulusi, die Lu hier spielt, begleitet vom Salonorchester. Die Brise ist akustisch wirklich sanft, aber zum Glück nicht so widerlich süß wie das Kürbiskompott, das es zu DDR-Zeiten in der Schulspeisung gab und das dem Rezensenten die Freude an dieser Frucht nachhaltig verleidet hat. Der reguläre Set endet mit „La folia“, abermals aus der Feder Vivaldis, der diesem alten Tanzmuster verschiedenste Seiten in Form von Variationen abgewonnen hat. Das tun die Beteiligten an diesem Abend auch, wobei sie die Harfe hier außen vorlassen. Die Anfangsbesetzung lautet Violine, Bratsche, Erhu, Cello und Cembalo, wobei die Klangfarbe der Erhu prima ins Geschehen paßt. Ude greift dann wieder zum Sax, und als er zurück zur Violine wechselt, holt Schneider die Singende Säge noch einmal hervor. Ude kann aber auch Blockflöte spielen, wie er nach Schneiders Rückwechsel zur Bratsche zeigt – und als er wieder zur Violine greift, beginnt Lu sein Instrument perkussiv zu bearbeiten. Die letzte Besetzung entspricht dann der ersten, mündet in ein großes und wildes Exzelsior, das aber nicht den Schlußgong bildet – da hängt noch ein gekonntes Ritardando an.
Natürlich möchte das Publikum Zugaben hören, und der Programmzettel weist sie der Einfachheit halber auch gleich aus. Zwar wird Saint-Saëns auch hier nicht mehr hervorgezaubert, aber statt dessen gibt es noch einmal einen zeitlichen Vorgriff, wenngleich nicht ganz so weit wie der der Frühlingsstücke: „Silvesterabend“ von Liu Tianhua erklingt mit Erhu und Harfe, zunächst eher bedächtig, dann munter-verspielt, wobei die Harfe teils parallel zur Erhu agiert, teils aber auch eigenständig. Derweil haben die anderen Musiker nochmal umgebaut, denn zu „Jingle Bells“ bedient Schneider nicht nur die Trompetengeige, sondern auch das Tretklavier, ein weiteres seiner originellen Instrumente, das ihm sein Stelzenfestspiele-Mitstreiter Erwin Stache zum 60. Geburtstag geschenkt hatte. Ude wiederum greift zum Schellenkranz, und das Publikum darf mitklatschen, tut das aber seltsam arhythmisch. Das abschließende kollektive Singen zur Orgelbegleitung (plus Erhu und Orchester natürlich auch hier) mündet ebenfalls in ein fröhliches Chaos, da kaum jemand den Text der zweiten Strophe von „Kling, Glöckchen, klingelingeling“ auswendig hinbekommt. Das Orgelnachspiel geht dann gleich in „Alle Jahre wieder“ über, bei dem das Auditorium deutlich textsicherer ist, aber dafür die Musiker verschiedene Vorstellungen über das Tempo an den Tag legen, so daß es zum Konzertfinale nach anderthalb Stunden abermals ein fröhliches Durcheinander gibt. Aber das trübt die positive Stimmung kein bißchen, und die Fangemeinde nimmt erfreut zur Kenntnis, daß dieses hochinteressante Konzertprojekt auch im Jahr 2025 anstehen wird, und zwar am Nikolausabend, dann aber nicht in der Nikolai-, sondern in der Peterskirche. Roland Ludwig |
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