Vitus vom Atlas: Mars Red Sky und Neànder im KuBa Jena
Bahnstreik, Blitzeis und dann auch noch ein Unfall des Sohnes eines der Neànder-Gitarristen, der sich einen Arm bricht – die Voraussetzungen für den letzten 2023er Gig der Berliner Formation hätten durchaus günstiger sein können. Aber eine ziemlich große Zahl Menschen findet auch ohne Bahn den Weg in den Jenaer Kulturbahnhof, das Blitzeis bleibt auf andere Regionen Deutschlands beschränkt, und der Sohn hält irgendwie auch ohne Papa durch, der mit seinen drei Spießgesellen in einem etwa eine knappe Stunde dauernden Supportgig ganze fünf Songs unterbringt: Die offenkundigen Accent-Fetischisten Neànder lagern irgendwo zwischen Doom und Postrock, nehmen sich für ihre Songaufbauten sehr viel Zeit und schaffen es trotzdem, den Hörer bei der Stange zu halten und nicht in Morpheus’ Arme abgleiten zu lassen. Das wabernde Intro erinnert ganz entfernt an Anathemas „Dreaming: The Romance“, ehe „Aăs“ seine bedächtige Entwicklung zunächst mit Halbakustikgitarren beginnt, bald aber in feisten Doom umschlägt, der an eine etwas stärker melodiedurchwobene Version der frühen Paramaecium gemahnt. Die Melodiestrukturen und auch der immer wieder festzustellende Einbau halbakustischer Melodiebögen erinnern eher an den klassischen Postrock, und einmal verfällt der Drummer plötzlich auch in prügelnde Raserei. Damit ist das Grundschema des Quartetts umrissen, aus dem sich auch die anderen Songs speisen, allerdings durchaus mit gewisser Variationsbreite: „Khàpra“ fällt im Durchschnitt einen Deut schneller aus, „Odem“ noch einen Deut schneller, ohne freilich in der Gesamtabrechnung den Doomsektor je zu verlassen – da sind allein schon einige brillante Doombreaks in den zügigeren Passagen vor. Und wenn der Drummer wildes Geprügel abliefert, die Gitarristen aber ultralangsam Einzelakkorde spielen, fühlt man sich an Disembowelment erinnert. Von den Bedienern dieses Instrumentes gibt es im Quartett übrigens gleich drei, dafür aber keinen Bassisten – der Baß kommt per Signalteilung im Wechsel aus den Gitarren, wo es sich gerade anbietet. „Thũjen“ fällt für Neànder-Verhältnisse ungewöhnlich kurz aus, bevor der langmähnige Hüne an der mittleren Gitarre, der auch für die Ansagen verantwortlich zeichnet, den letzten Song ankündigt: „Wir sehen uns am Merch, so in 20 Minuten, wenn der Song zu Ende ist.“ Das ist eine kleine Übertreibung, aber nur eine kleine, denn so viel kürzer ist „Atlas“ tatsächlich nicht, einen bunten Tempomix auffahrend und das letzte Hauptthema extrem weit auswalzend und minimal variierend, immer in einem ausreichenden Maße, um das Interesse wachzuhalten. Und als man denkt, alles wäre zu Ende, schreitet der Hüne nach hinten, holt eine Akustikgitarre und bestreitet mit dieser die letzten Variationen des Themas, ganz zum Schluß komplett alleine. Dank eines relativ klaren Soundgewandes kann man die Entwicklungen problemlos verfolgen, obwohl die pure Klarheit der ersten zwei Drittel von „Aăs“ nach dem erwähnten Prügelpart nicht wieder erreicht werden kann. Aber das stört die allgemein positive Stimmung nicht. Von der Setlistzusammensetzung her fällt übrigens auf, dass drei der fünf Songs vom schon etliche Jahre alten selbstbetitelten Debütalbum stammen (und zwar die mit Accents), dagegen nur einer, nämlich „Atlas“, vom aktuellen Werk Eremit und einer, nämlich „Odem“, von einer ebenfalls 2023 erschienenen Split-Veröffentlichung. Der eingangs erwähnte Gitarrist, dessen Sohn sich den Arm gebrochen hat, fällt übrigens noch in zweierlei Hinsicht aus dem Rahmen: Zum einen fährt er eine Frisur auf, die einen kuriosen Mix aus angepunktem Strubbelkopf und Leningrad-Cowboys-Manier darstellt, und zum anderen wird er justament an diesem Abend 40 Jahre alt. Trotz des gut gelaunten Publikums kommt aber irgendwie niemand auf die Idee, „Happy Birthday“ anzustimmen ... Mars Red Sky (Foto) sind auf einer reichlich einwöchigen Europatour und spielen an diesem Abend deren vorletzten Gig. Das Trio fällt erstmal durch die kuriose Optik auf: Ein Metal-Drummer, ein winziger Gitarrist mit Schiebermütze und ein schrankförmiger Bassist, dessen Kleidung an eine Kreuzung aus den Vorlieben von Thomas Gottschalk und Jürgen von der Lippe erinnert, lassen dem Uneingeweihten erstmal noch keinerlei Chance, den eventuellen Stil der Franzosen zu ergründen. Der überrascht aber auch gleich noch: Zwar wird die Formation mit Attributen wie „psychedelisch“ belegt, aber die dem Endlosschleifen-Intro „Trap Door“ folgenden „Slow Attack“ und „Break Even“ klingen zumindest instrumental stärker nach alten Saint Vitus als die Chandler-Combo selbst. Die Gitarre und der markante Baß laufen ineinander, der Drummer schleicht durch die Songs, und nur der Gesang macht klar, dass wir hier nicht die US-Westküstler vor uns haben. Der winzige Gitarrist entpuppt sich in puncto Gesang aber als Riese, legt eine klare und sehnsuchtsvoll wirkende, so ganz und gar nicht melancholische Stimme an den Tag, die in der Färbung ein wenig an die tieferen Lagen von Rushs Geddy Lee erinnert, aber ohne dessen nasalen Touch auskommt. Außerdem hat er einen Soundeffekt auf seinem Mikrofon liegen, als stünde er in einem riesengroßen Raum Dutzende Meter vom Hörer entfernt, aber trotzdem stets klar durchhörbar. In einzelnen Songs wie „Apex 3“ steuert der Bassist eine zweite Gesangslinie bei, und beide ähneln sich so sehr, dass der eine den anderen vermutlich jederzeit problemlos vertreten könnte, mit dem markanten Unterschied im Soundgewand freilich, dass der Riesen-Raum-Effekt auf dem Mikrofon des Bassisten fehlt. Ab Song 3, dem Instrumental „Arcadia“, kommen dann tatsächlich auch die psychedelischen Elemente etwas stärker zum Tragen, ohne dass der Saint-Vitus-Touch aber verlorengeht, und der Drummer sieht lange Zeit keinerlei Anlaß, etwa in flottere Gefilde überzuwechseln – erst kurz vor dem Setende stehen einige Songs, wo er zumindest hier und da mal andeutet, dass Mars Red Sky durchaus auch zügiger zu Werke gehen könnten, wenn sie wollten. Aber sie wollen eben über weite Strecken nicht, sondern setzen auf die Gestaltungskraft ihrer gleichfalls recht bedächtigen, im Vergleich zu Neànder aber ein gutes Stück kürzeren Songs, die sie mit einigen Effekten und sparsamen Samples ausstaffieren, so dass etwa „The Final Round“ einen E-Bow-artigen Sound auffährt. Von der Setlist her konzentrieren sich die drei Franzosen auf ihr justament an diesem Tag offiziell erschienenes neues Album Dawn Of The Dusk, früheres Material kommt erst gegen Setende in gehäufter Form vor, und nach „Strong Reflection“ kündigt die Band an, dass sie jetzt normalerweise die Bühne verließe, um für die Zugabe wiederzukommen, dass man dieses Showelement aber auch weglassen könnte, um gleich die Zugabe zu spielen. Das überwiegend bestens gelaunte Publikum darf übrigens raten, was als Zugabe kommt, und einer der Anwesenden trifft mit „Up The Stairway To Heaven“ ins Schwarze. Diese urlange Nummer, etliche Minuten instrumental bleibend, bevor sich doch noch Gesang hinzugesellt, mündet in einem großen Dröhnwaber-Finale, das aber auch klar durchhörbar bleibt – die bandeigene Soundfrau schafft es während des ganzen Gigs, ein transparentes Klanggewand zu schneidern, das trotzdem nicht unter einem Mangel an Power zu leiden hat. Klar, man muß sich auf den schon ziemlich speziellen und fordernden Sound des Trios einlassen können, aber wenn man das kann, dann bilden Mars Red Sky ein gefundenes Fressen für den Hörer zwischen psychedelischen Blumenkindern und eben Saint Vitus. Der Rezensent, der die Band zuvor noch nie live erlebt hat, trägt übrigens rein zufällig an diesem Abend ein Saint-Vitus-Longsleeve ... Roland Ludwig |
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