Anatomie eines Kellners: Jazzig-poppige vorweihnachtliche Musik und Lyrik mit Sandra Hüller u.a. in Leipzig
Die Karriere der Schauspielerin Sandra Hüller (Foto) geht gerade durch die Decke: Schon früher mit etlichen Preisen gekrönt, setzen ihre aktuellen Filme „Zone Of Interest“ und „Anatomie eines Falls“ noch eins drauf. So verwundert die hohe Ticketnachfrage für das von Prof. Ralf Schrabbe an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater konzipierte Programm mit „vorweihnachtlicher Musik und Lyrik“, bei der Hüller den letztgenannten Part übernimmt, nicht: An beiden Abenden (der Rezensent erlebt den ersten der beiden) ist der Große Saal der Hochschule restlos ausverkauft. Zwar konnten sich auch in präpandemischen Zeiten diese Vorweihnachtsprogramme oft eines sehr guten Zuspruchs erfreuen, aber dass das in postpandemischen Zeiten keineswegs auf einen Selbstläufer hindeutet, dürfte mittlerweile allgemein bekannt sein. Im Gegensatz zu diversen der genannten früheren Produktionen gibt es diesmal kein geschlossenes Stück, sondern ein Nummernprogramm, das fast ausschließlich auf akustische Wirkungen setzt – Kostüme und schauspielerische Elemente gibt es nicht, und die Bühnendeko beschränkt sich auf sieben Gittermasten im Bühnenhintergrund, die bedarfsweise unterschiedlich farbig angeleuchtet werden können, und einen kleinen Tisch mit einem Weihnachtsteller, der vor Hüller steht, die in einem Sessel am aus Publikumssicht rechten Bühnenrand sitzt. Die anderen Mitwirkenden verteilen sich über die Bühne: Der 34-köpfige Jazzchor steht in zwei fast bühnenbreiten Reihen ganz hinten, die Bigband nimmt davor in klassischer Anordnung Platz, also aus Publikumssicht rechts der Bläserblock, mittig das Schlagzeug, links das Klavier, irgendwo verteilt der Rest, und die sechs Gesangssolisten sitzen links außen und stehen auch dort, wenn sie Backingvocals singen, während der jeweilige Leadvokalist sich in die Bühnenmitte begibt. Von den insgesamt fünf Menschen mit Leitungsfunktionen stehen zwei auf der Bühne, wenn sie gerade etwas zu tun haben, nämlich Chorleiter Daniel Barke und Bigband-Leiter Rolf von Nordenskjöld, während Evelyn Fischer und Jörg Leistner, die die sechs Solosänger vorbereitet haben, komplett im Verborgenen bleiben und Ralf Schrabbe als Chef des Gesamten zumindest noch beim Schlußapplaus mit auf die Bühne kommt. Von der Zusammensetzung her gibt es wie erwähnt ein Nummernprogramm ohne übergreifende Zusammenhänge, sieht man vom adventlichen bzw. weihnachtlichen Grundthema ab. Auch die Beteiligten wechseln munter. Mit „Es kommt ein Schiff, geladen“ eröffnet eine reine Bigband-Nummer den Abend, der Arrangeur Felix Kantelberg den düsteren Charakter des Originals genommen, diesen aber durch eine noch unzugänglichere Harmonik ersetzt hat, in die man sich erst intensiv hineinhören muß. Zum Glück ist das Stück relativ lang, so dass man einige Zeit dafür hat und auch gleich die ersten Solobeiträge aus Posaune, Saxophon und Trompete geboten bekommt – außerdem gibt es auch einen Durchlauf des althergebrachten Chorals zur Orientierung. In „We Three Kings“ agiert der Jazzchor, der allerdings noch homogenitätsseitige Reserven offenbart und der generell sehr eigenartig abgemischt ist: Er klingt nach einer weiten Entfernung in einem riesigen Raum, dort dann aber etwas steril, wie die eigenartigen Schnips-Geräusche zeigen. Hüller muß ihren ersten Beitrag lesen, während der Chor hinten abgeht, aber das Wagnis gelingt – keiner macht hinten zuviel Lärm, und so kann man ungestört Brechts „Paket des lieben Gottes“ lauschen, das die Schauspielerin mit angenehmer Stimme in guter und natürlicher, nicht übertriebener Weise darbietet. Der Terminus „Lyrik“ ist übrigens nicht zu eng zu fassen – im Prinzip gibt es mit einer Ausnahme Prosa. In „Adeste Fideles“ tritt der erste der Gesangssolisten in Erscheinung: Valentin Kuhn kommt mit einer Frisur-Mixtur aus Robert Plant und Paul Breitner daher, erinnert stimmlich aber an keinen der beiden, sondern führt eine angenehme, ganz leicht soulige Stimme ins Feld. Dass Arrangeur Ralf Schrabbe ihm eine Vokallinie gibt, die weitgehend unabhängig vom bläserischen Unterbau aus der Bigband bleibt, kann man als Vor- oder Nachteil ansehen, aber der ungewöhnliche hohe ätherische Schlußton überzeugt allemal. „The Christmas Song“ bringt nur ein Bläserquartett aus der Bigband zu Gehör und gestaltet sich sehr bedächtig, ganz im Gegensatz zu Hüller in „Der doppelte Weihnachtsmann“, wo die Schauspielerin den humoristischen Gestus bisweilen auch mit tiefer Weihnachtsmann-Stimme umsetzen muß und sich kongenial aus der Affäre zieht, indem sie gar nicht erst versucht, wie ein Mann zu klingen, sondern die betreffenden Passagen eher in Knusperhexen-Gefilde lenkt. Das recht zügige „Winter Wonderland“ wird von gleich zwei Solosängerinnen gestaltet, nämlich Lisa Wetzel und Alexandra Schedel, die das Ganze auch mal in Moll-Gefilde führen müssen und beide überzeugen können, wobei Schrabbe das Arrangement teils in recht bombastische Gefilde lenkt. „I’ll Be Home For Christmas“ bleibt dagegen sehr beschaulich, wirkt bisweilen etwas zu bemüht, enthält aber auch einige interessante Wendungen – gesungen wird hier im Sechser-Kollektiv. „The World For Christmas“ von Anders Edenroth gestaltet wieder der Jazzchor. Das ruhige Fließen schwillt zwischendurch ziemlich an und mündet dann wieder in einen schönen entspannten Schluß, wobei die markante Gestaltung der Baßstimme besonders auffällig ist. Heinrich Bölls „Monolog eines Kellners“ gipfelt im Satz „Gute Kellner werden überall gesucht“, der heute vermutlich noch größere Aktualität besitzt als zum Zeitpunkt der originalen Abfassung des Textes. Der knapp einstündige erste Teil des Programms endet mit „This Christmas“ und dem zweiten der männlichen Solisten, Luca Patane, anhand dessen Kleiderschrankform man alles andere vermutet hätte, aber nicht eine derartig hohe, ätherische Stimme, die freilich auch powervolle Passagen problemlos umsetzen kann und sich selbst vom hohen Schlußwitz nicht ins Bockshorn jagen läßt. Irgendwie tut sich eine gedankliche Parallele zu Larry B. (bekannt von Toxic Smile, Stern Combo Meißen, Krause-Duo etc. pp.) auf, mit dessen Kneipenschläger-Optik (Copyright: Ex-CrossOver-Kollege Tobias Audersch) man auch nicht unbedingt eine Stimme der Marke „Phil Collins auf Stereoiden“ verbunden hätte. Set 2 hebt mit einer recht flott groovenden Version von „Let It Snow“ an, kompetent vokalisiert von Sophia Günst, ehe Hüller mit „Das Grundschulheim“ von Benedict Wells eine Story aus dessen Sammlung „Lichterloh – Geschichten unter dem Weihnachtsbaum“ vorträgt, die abgesehen von dieser Einordnung keinen weihnachtlichen Bezug hat, was dem Interesse beim Hören aber keinen Abbruch tut. Mit der Etüde Nr. 2 op. 1 von Alexander Skrjabin folgt auch gleich ein Musikstück ohne konkreten Weihnachtsbezug, aber auch das stört nicht, denn was Arrangeur Schrabbe aus der originalen Klavierfassung für die Small Group, also die reduzierte Bigband, gemacht ist, das bereitet durchaus Hörspaß, sehr langsam anhebend, aber das Thema schon flüssiger nehmend, die große Steigerung dynamisch indes folgenlos lassend und trotzdem eine coole Binnendynamik hinbekommend. Danach beginnen die Abweichungen vom gedruckten Programm, denn die Wells-Geschichte hat noch einen zweiten Teil, der im Programmheft nicht erwähnt wird und Weihnachten zumindest mal kurz verbal nennt. „Macht hoch die Tür“ wiederum erklingt im Gegensatz zur Ankündigung als Instrumentalfassung, u.a. mit einem coolen Kontrabaß-Solo. „The Gift Of Giving“ holt die letzte noch nicht solistisch aktiv gewesene Sängerin nach vorn, und die eher kleine Nora Handschuh besitzt eine erstaunlich tiefe, bedarfsweise ziemlich powervolle Stimme, wozu die recht langsame, aber massiv treibende Musik in diesem Falle prima paßt. „Santas Sack“ von Markus Heitz führt Hüller bisweilen in Dialekt-Gefilde, aber auch dieser Aufgabe entledigt sie sich souverän – und auch dieser Text ist unerwähnt zweigeteilt, unterbrochen durch „Have Yourself A Merry Christmas“ mit der Bigband und dem Vokalduo aus Valentin Kuhn und Alexandra Schedel, das sehr unterschiedliche Stimmfärbungen besitzt und doch prima zusammenpaßt, während das Musiziertempo abermals weit unten liegt. Der Jazzchor setzt nach dem zweiten Heitz-Teil mit „I Wonder As I Wander“ von John Jacob Niles gleichfalls atmosphärisch-ruhig fort – und spätestens hier reißt der Geduldsfaden, was das Dirigat von Barke angeht. Selbst in einer derart ruhigen Nummer springt und wedelt der Dirigent noch herum wie ein Stehaufmännchen und setzt damit einen unangenehmen optischen Gegenpol zum Charakter der Musik – ein Phänomen, das schon im ersten Set an den entsprechenden Stellen, hauptsächlich in „The World For Christmas“, aufgefallen ist, aber jetzt hier richtig zum Störfaktor wird, vor allem, wenn man daneben die ruhig-souveräne Eleganz Nordenskjölds sieht, dem trotzdem ein paar kleine Gesten reichen, um seine Bigband-Spieler wilde Energieschübe evozieren zu lassen, wenn’s drauf ankommt, wie „Christmas Time Is Coming“ aka „Home For The Holidays“ zum wiederholten Male beweist, wenngleich diese funkig krachende Nummer auch stark von Luca Patanes Präsenz lebt, der große Schmachtvocals auffährt und „Clap your hands!“ in Richtung des Publikums ruft, was sich dieses nicht zweimal sagen läßt. Das wäre eigentlich der ultimative Setcloser gewesen – Schrabbe senkt aber statt dessen nun den Adrenalinspiegel wieder, zunächst mit „We Wish You A Merry Christmas“ in einer seltsamen Version für Jazzchor und Bigband, die eher fragmentiert und distanziert daherkommt und wo das verschleppt-komplexe Drumming ausnahmsweise mal so richtig nervt. Hüller muß mit Joseph von Eichendorffs Gedicht „Weihnachten“ das Tempo noch weiter rausnehmen, was sie mit nachdenklichem, aber nicht zu rührseligem Gestus auch schafft – und das ist das letzte Stück des Programms. Wie soll man jetzt das Publikum in Jubel ausbrechen lassen? Hüller atmet tief durch, sagt in leicht angespanntem, aber freundlichem Ton „Fröhliche Weihnachten!“ und bricht damit das Eis, denn der vollbesetzte Saal beginnt sogleich zu applaudieren und wird selbstverständlich mit zwei Zugaben belohnt. „Underneath The Christmas Tree“, eine fröhlich speedige Nummer, wird von Sophia Günst vokal nochmal stark in Szene gesetzt, ehe eine schaurige Version von „Stille Nacht“ (im Jazzchor herrscht einige Unordnung, und Barke zappelt selbst in diesem Stück noch völlig unpassend herum, als habe man ihm sein Beruhigungsmittel entzogen) den empfindsamen Hörer wieder erdet. So endet ein bis kurz vor Schluß ziemlich starkes Konzert irgendwie diffus. Schade drum. Roland Ludwig |
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