Tourniquet
Stop The Bleeding
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Als sich der Sänger Guy Ritter und der Gitarrist Gary Lenaire Ende der Achtziger in L.A. mit dem Drummer Ted Kirkpatrick zusammentaten, war zunächst angedacht, ein neues Line-up für die Band Holy Danger zusammenzustellen, in der Ritter und Lenaire bereits in ihrer alten Heimat Oregon zusammengearbeitet hatten (und zu denen eine Zeitlang auch Gitarrist Dee Harrington gehörte, der später mit Saint bekannt werden sollte). Man entschied sich aber für den neuen Bandnamen Tourniquet, spielte Demos ein und landete schließlich bei Intense Records, wo Ende 1990 Stop The Bleeding herauskam und in der damaligen christlichen Metalszene einschlug wie die sprichwörtliche Bombe – Thrash war zwar im nichtchristlichen Metal schon längst wieder auf dem absteigenden Ast, aber im christlichen Bereich standen Tourniquet mit Believer und Lightforce, aus denen kurze Zeit später Mortification wurden, mit dieser Stilwahl erstmal alleine da, zumindest was Combos mit Plattendeal und halbwegs vernünftiger Verbreitung ihrer Scheiben wenigstens im christlichen Marktsegment anging (im Underground lärmten natürlich noch weitere Kapellen dieser Art).
Der Begriff „Thrash“ ist im Kontext von Stop The Bleeding allerdings noch ein wenig mit Vorsicht zu genießen, denn hier finden sich auch massive Power-Metal-Einflüsse, während die Progressive-Kante noch nicht ganz so stark ausgeprägt ist wie dann auf den beiden Folgewerken. Sonderlich geradlinig musiziert das temporäre Quartett (Gitarrist Mark Lewis spielte nur einige Leads ein) allerdings natürlich auch hier nicht, und gleich der Opener „The Test For Leprosy“ macht klar, dass sich Tourniquet durchaus nicht sklavisch an gängige Songwriting-Regeln zu halten gedenken. In der ersten Songhälfte tun sie’s noch, aber dann folgen zirkusartige Einflüsse und cineastisch gedachte Elemente – man sieht förmlich vor sich, wie einer im alten Israel durch die Straße läuft und gemäß dem alttestamentlichen Gesetz „Aussatz! Aussatz!“ ruft, um seine Mitbürger vor der Lepra-Ansteckungsgefahr zu warnen. Dann folgt ein großes Solo – und dann ist der Song plötzlich zu Ende, anstatt wie üblich nochmal den Refrain dranzusetzen. Solcherart strukturiert sind natürlich nicht alle der zehn Songs, aber auch in den anderen muß man mit der einen oder anderen Überraschung rechnen, etwa halbballadesken Elementen im Sechsminüter „The Tears Of Korah“ oder den ersten von vielen in der Bandkarriere noch folgenden Themen aus der Welt der klassischen Musik, hier im Instrumental „Whitewashed Tomb“ als stilistische Adaption gleich in mehrere Richtungen: die große Gitarrenmelodie im schnellen Schlußteil atmet das typisch barocke, Bach-artige Feeling, wie man es später beispielsweise auf Microscopic View Of A Telescopic Realm in reichhaltiger Menge wiederfinden sollte, aber dann auch als direktes Zitat (nur geringfügig, aber treffsicher abgewandelt) von Wagners Hochzeitsmarsch in „Harlot Widow & The Virgin Bride“. Melodische Nachvollziehbarkeit war Tourniquet immer wichtiger als das Brechen von Extremitätsrekorden, was auch auf den Gesang zutrifft, wobei Ritter sich hier und da trotzdem in extreme Gefilde vorwagt, wie gleich „Ready Or Not“ deutlich macht, wo er in Falsett-Lagen vorstößt, die man damals im Metal im wesentlichen nur von King Diamond kannte, der zwar Kirkpatrick bekannt gewesen sein dürfte (seine Kumpels von Trouble waren anno 1987 schließlich mit dem King auf großer US-Tour, und noch immer konnte nicht geklärt werden, wer da am Schlagzeug saß – aber selbst wenn es wirklich nicht Kirkpatrick selber war, dürfte das immer mal Gesprächsthema während seiner Aushilfe bei der Band gewesen sein), den Ritter nach eigener Aussage aber nicht kannte und sich erst mit dessen Gesang beschäftigte, nachdem man ihn immer wieder mit dem gebürtigen Dänen verglich. Allerdings beschränkt sich Ritter darauf, die Falsetts nur in bestimmten Passagen einzusetzen, und legt generell eine enorme Variabilität der stimmlichen Darbietung an den Tag, in „Ark Of Suffering“ noch durch Lenaire ergänzt, der eine leicht herber shoutende Passage darbietet, die allerdings problemlos auch noch ins Stimmfach von Ritter gepaßt hätte – eine sonderlich starke Kontrastwirkung gibt es also nicht. Besagtes „Ark Of Suffering“, von Kirkpatrick geschrieben, sollte zum ersten Signatur-Song der Band werden und behandelt den verbesserungswürdigen Umgang des Menschen mit Tieren, ein lebenslanges Thema für den Drummer, auch als Videoclip in Szene gesetzt, den MTV trotz einflußreicher Fürsprecher aber schnell wieder aus dem Programm entfernte, um der Öffentlichkeit die oftmals eher unangenehm berührenden Bilder von Versuchsaffen und anderen gequälten Kreaturen zu ersparen. Das Intro von „Somnambulism“, auch das eine der vier Kirkpatrick-Kompositionen auf dem Album, macht zudem die Affinität des Drummers für Doom deutlich, was auf späteren Alben noch viel klarer durchschien und im 2016er Black-Sabbath-Tribute-Album gipfelte. Mit dem bereits erwähnten vielschichtigen „Harlot Widow & The Virgin Bride“ schließt der erste richtige Longtrack der Bandgeschichte, dem auch noch etliche folgen sollten, den regulären Teil von Stop The Bleeding ab und unternimmt in seinen knapp acht Minuten einen Parforceritt durch quasi alles, was in den neun Songs zuvor schon angeklungen ist, wobei diese Nummer auch auf ein King-Diamond-Album gepaßt (und dort keine schlechte Figur abgegeben) hätte, allerdings im Gegensatz zu diversen anderen Songs nicht mit einem eingängigen Refrain ausgestattet wurde. Auch sonst ist noch nicht alles Gold, was glänzt, wenngleich kein Song ein ordentliches Qualitätslevel unterschreitet und etliche sogar richtig viel Freude beim Hören bereiten. Und kompetent eingespielt ist’s allemal, wobei sich Kirkpatrick und Lenaire die Baßarbeit teilten (jeder fünf Songs, Kirkpatrick dabei seine eigenen vier und mit „The Threshing Floor“ einen der beiden Ritter-Songs), weil Tourniquet zum Zeitpunkt der Einspielung noch keinen Bassisten hatten. Und die Freude am Spielen hört man durchgängig heraus, einige frenetische Soli diesbezüglich den Spitzenplatz einnehmen lassend. Auch am Soundgewand gibt es nichts zu deuteln – Bill Metoyer zählte schon damals zu den Könnern seines Fachs.
Retroactive Records haben anno 2020 unter dem Namen „Metal Icon Series“ die ersten drei Tourniquet-Alben als Re-Releases herausgebracht, weiland noch in Zusammenarbeit mit dem 2022 verstorbenen Ted Kirkpatrick. Das Booklet enthält alle Texte, etliche historische Fotos und Liner Notes des Drummers, wobei letztgenannte allerdings sehr knapp gehalten sind. (Randbemerkung: Nominell war auf der Erstpressung Vengeance Risings Roger Martinez als Produzent angegeben, der aber eher wenig beigetragen haben soll, während Metoyer die ganze Arbeit erledigt habe, liest und hört man in späteren Interviews mit Ritter und Kirkpatrick – Martinez‘ Name kommt auf dem Re-Release folglich nicht vor, für die technische Komponente wird ausschließlich Metoyer genannt.) Dazu kommen vier Bonustracks, nämlich als erstes „The Test For Leprosy“ in einer Demofassung, die alle späteren Trademarks des Songs auch schon enthält und lediglich die Gesangsvielfalt noch in etwas reduzierterer Form bietet. Danach folgen noch drei am 24.7.1992 im kalifornischen Anaheim mitgeschnittene Livetracks in etwas polteriger und leicht schwankender, aber anhörbarer Klangqualität, wobei die Wahl ausschließlich auf Tracks fiel, die als Studiofassung auf dem Album stehen, nämlich „Somnambulism“, „Whitewashed Tomb“ (in einer gekürzten Fassung) und „The Test For Leprosy“, welchletzteres damit gleich dreimal innerhalb der reichlichen Stunde Spielzeit erklingt. Dass es alles Kirkpatrick-Nummern sind, dürfte vermutlich auch kein Zufall sein ...
Soweit, so gut – nur stellt diese ikonische Ausgabe durchaus nicht der Weisheit letzten Schluß dar, was eine komplette Aufarbeitung der frühen Tourniquet-Geschichte angeht. Mit 62 Minuten ist der Silberling durchaus nicht so überfüllt, dass die anderen frühen Demoaufnahmen, die zum Teil auf früheren Re-Releases enthalten gewesen waren, hier nicht mehr draufgepaßt hätten. Gut, es kann natürlich sein, dass Ritter und Lenaire bezüglich der Verwendung des von ihnen geschriebenen Materials ihr Veto eingelegt haben (als die Arbeiten an der Metal-Icon-Serie liefen, hatten sie arbeitstechnisch ja schon wieder zueinandergefunden, und kurioserweise spielen aktuell in ihrer neuen Band Flood mehr Mitglieder von Tourniquet Mark I als in der finalen Inkarnation von Tourniquet selbst), und das wäre natürlich schade. Wenn dem aber nicht so war, müssen sich die Verantwortlichen hier ein klares Versäumnis ankreiden lassen, und falls das Material spielzeittechnisch nicht draufgepaßt hätte, wären die Livetracks locker verzichtbar gewesen. So bleibt die ultimative Edition von Stop The Bleeding immer noch ein Desiderat, und inwieweit nach dem Tod Kirkpatricks so eine Edition noch hergestellt werden könnte, muß mit gewisser Skepsis betrachtet werden. Aber egal wie: In irgendeiner Form gehört Stop The Bleeding in den Haushalt des anspruchsvollen wie geschmackssicheren Metallers, und wem die beiden Folgewerke etwas zu stark in den Progthrash abdrifteten, der könnte das Debüt vielleicht sogar in stärkerem Maße goutieren als die Folgewerke.
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | The Test For Leprosy | 4:39 |
2 | Ready Or Not | 3:31 |
3 | Ark Of Suffering | 4:16 |
4 | Tears Of Korah | 6:20 |
5 | The Threshing Floor | 4:13 |
6 | You Get What You Pray For | 3:23 |
7 | Swarming Spirits | 3:24 |
8 | Whitewashed Tomb | 4:22 |
9 | Somnambulism | 4:39 |
10 | Harlot Widow And The Virgin Bride | 7:46 |
11 | The Test For Leprosy (Demo) | 4:27 |
12 | Somnambulism (Live) | 4:28 |
13 | Whitewashed Tomb (Live) | 2:06 |
14 | The Test For Leprosy (Live) | 4:53 |
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Besetzung |
Guy Ritter (Voc)
Gary Lenaire (Git, B)
Mark Lewis (Git)
Ted Kirkpatrick (Dr, B)
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