Drei Naheliegende und doch nicht Naheliegende: Die Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz spielt Bernstein, Walton und Schostakowitsch
Drei Komponisten, deren Lebensspanne sich ausschließlich im 20. Jahrhundert bewegt, deren Geburtsjahre nur um maximal 16 und deren Todesjahre nur um maximal 15 Jahre differieren und die doch kompositorisch wie von den Rahmenbedingungen ihres Schaffens her kaum weiter auseinanderliegen könnten, liefern das Programm für das 4. Sinfoniekonzert der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz in der laufenden Saison, und obwohl zwei der drei Namen zu den bekanntesten zählen, die in eingangs genannte Beschreibung passen, erscheint so eine Konstellation grundsätzlich gewagt – das wäre sie auch bei den ganz Großen der Orchesterzunft, und das ist sie erst recht bei den etwas Kleineren. Zumindest am ersten der beiden Chemnitzer Konzertabende sind aber keine Auswirkungen festzustellen – das Konzert erscheint zumindest für den nur unregelmäßig dort anwesenden Rezensenten weder besonders gut noch besonders schlecht besucht. Mit Leonard Bernsteins Ouvertüre zu Candide eröffnet ein Quasi-Hit das Programm – im Gegensatz zur „Comic Operette“ selbst, die immer ein wenig im Schatten der West Side Story steht, führt die Ouvertüre ein erfolgreiches Eigenleben als Konzertstück. An diesem Abend braucht’s ein wenig Zeit, bis die Feinheiten des Grooves richtig sitzen, aber sobald der erste Offbeat von der Bühne kommt, sitzt der Anzug schon mal. Mit John Fiore steht ein Mann am Dirigentenpult, der in Bernsteins letzten Lebensjahren noch selber mit diesem gearbeitet hat, also dessen Vorstellungen genau kennen sollte und der zudem vor allem als Operndirigent reüssiert hat, also diesbezüglich bei Candide in besonderem Maße vom Fach sein sollte, und das merkt man auch. Er wählt ein ziemlich flottes Tempo, und dafür, dass sich die Bühne im Großen Saal der Stadthalle in Publikumsrichtung verbreitert, dadurch auch der Schall in die Breite gezogen wird und daher beispielsweise den Blechbläsern einiges an Strahlkraft verlorengeht, dafür kann er ja nichts. Aus der Not macht er freilich eine Tugend und gestaltet den in die Breite gehenden Klang ziemlich transparent, so dass man ein paar sonst eher selten gehörte Details wahrnehmen kann. So ergibt sich ein hübsches Stück Musik, das allerdings wenig weltbewegend ausfällt und im Direktvergleich mit der Wiedergabe durch Gustavo Dudamel und das Simón Bolívar Youth Orchestra of Venezuela anno 2007 im Gewandhaus viel, viel weniger Sexappeal hat. Von William Waltons Konzert für Violine und Orchester erklingt an diesem und dem folgenden Abend die revidierte Version von 1943, und zwar mit einer „hauseigenen“ Solistin: Heidrun Sandmann (Foto), sonst Konzertmeisterin der Robert-Schumann-Philharmonie, gräbt gern mal ein eher selten gespieltes Solokonzert für ihr Instrument aus, das sie dann mit ihren Kolleginnen und Kollegen zur Aufführung bringt, und nach beispielsweise Hans Pfitzner und Erich Wolfgang Korngold ist nun also William Walton dran, der bis auf den Kontrabaß jedes Streichinstrument mit einem Solokonzert bedachte. Im Violinkonzert behält er zwar die althergebrachte dreisätzige Struktur bei, schiebt den langsamen Satz aber aus der Mitte an den Anfang. Freilich: In diesem Andante tranquillo geht es auch alles andere als tranquillös zu, zerrt trotz dynamischer Zurückhaltung die Solistin gleich zu Beginn unterschwellig an den Ketten und sorgt dafür, dass der Hörer nicht in Morpheus’ Arme gleitet, auch wenn sich im weiteren Verlaufe des Satzes durchaus Gelegenheit dazu ergäbe, und das liegt nicht am etwa einschläfernd spielenden Orchester, sondern am das so geplant habenden Komponisten. Sandmann spielt eine im Ton sehr dunkle Violine, die zur Stimmung in diesem Satz prima paßt, und so entspinnt sich schon bald eine großartige Violinlinie über den zurückhaltenden Orchesterteppichen. Bis alle Einsätze perfekt klappen, dauert es auch hier ein bißchen, aber die plötzlichen Beschleunigungen inmitten des ruhigen Geschehens zieht Fiore dem Orchester prima aus der Nase. Ab der Kadenz wird der Violinenton immer zauberhafter, und Sandmann überrascht, indem sie die große Orchestersteigerung mitgroovt, obwohl ihr nächster Einsatz erst nach dem Zusammenbruch im Pianissimo kommt. Das lyrische Verklingenlassen meistern die Beteiligten wieder hervorragend, auch die Spannung am Satzende steht. „Presto capriccioso alla napolitana“ steht über dem zweiten Satz, und Sandmann versucht sofort wieder an den Ketten zu zerren, aber diesmal folgen ihr die Orchestermusiker nicht und setzen nur einige Zupfer mitten ins wilde Gefrickel. Das Walzerthema läßt Fiore sehr rhythmusgeschärft spielen, und aus dem Horn kommen schöne Melodien, die aber lange ein gestalterischer Fremdkörper bleiben und erst spät in diesem Satz richtig eingebunden werden, dann allerdings an prominenter Stelle um die Solovioline. Der Satz brettert nicht ungebremst durch die Gassen Neapels, sondern ist ziemlich wendungsreich gestaltet und nicht leicht erschließbar. Letzteres trifft auch auf das abschließende Vivace zu. Kantige Tiefstreicher bekommen ebenso kantige Antwort aus der Solovioline, diverse Stimmungswechsel läßt Walton kaum vorbereiten, und im herben Galopp aus der kleinen Trommel zeigt er seine Fähigkeiten als Filmkomponist. Klangtransparenz bleibt auch hier Trumpf – die Solistin ist stets angemessen hörbar, und trotz des eher schmalen dynamischen Feldes findet Fiore doch Pfade, auf denen sich die Musiker nicht gegenseitig niedertrampeln. Selbst das große Tutti bleibt übersichtlich, und in der Mini-Kadenz liegt viel Spannung, die sich in einem langen ruhigen Part langsam zu entladen scheint. Dass Walton hier noch einen flotten, eher unkoordiniert wirkenden Schluß anklebt (was er in seinen beiden anderen Streichersolokonzerten nicht tat), dafür kann mal wieder niemand was, und das Publikum ist vom Stück recht angetan, so dass sich die Solistin über drei „Vorhänge“ freuen darf, allerdings auf eine Zugabe verzichtet. Interessanterweise bekommt sie gleich zwei Blumensträuße aus den Reihen der Ersten Geigen überreicht – das ist, wie der Rezensent später erfährt, bei „orchestereigenen“ Solisten so zur Tradition geworden, während externe Solisten die übliche Zahl an Sträußen bekommen, also einen (in Zahlen: 1). Für einen US-amerikanischen Dirigenten mag es nicht unbedingt einfach sein, sich in das Schaffen von Dmitri Schostakowitsch hineinzuversetzen und speziell die so manchem Werk innewohnende Meta-Ebene samt aller Doppelbödigkeiten zu ergründen, ist seine Lebenswirklichkeit doch eine komplett andere als die des Komponisten, dessen Leben mehr als nur einmal am seidenen Faden der Gnade Stalins hing. Aber Fiore ist Operndirigent, und das kommt ihm bei der Interpretation von Schostakowitschs Sinfonie Nr. 9 Es-Dur op. 70 sehr entgegen. Wir erinnern uns: Nach den Sinfonien Nr. 7 und 8, gerne als die großen Kriegssinfonien apostrophiert, erwartete die sowjetische Staats- und Parteiführung, nachdem man den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte, vom Komponisten als 9. Sinfonie ein heroisches Werk entweder zur Feier des Sieges oder zum Gedenken an die Opfer, im Idealfall natürlich gar eine Kombination aus beidem. Was Schostakowitsch lieferte, war indes keines von beidem, sondern eine Art Sinfonie-Parodie von kaum einer halben Stunde Dauer, also einer Zeitspanne, in der die beiden Vorgänger gerade mal den ersten Satz hinter sich gebracht hatten, und dazu von einem Ausdruck, der das Werk im propagandistischen Sinne völlig nutzlos machte, wonach wieder eine dieser Situationen eintrat, in denen der in Ungnade gefallene Komponist nicht sicher sein konnte, ob er den nächsten Tag noch erleben würde. Ergo schob er nach dem 1948er Donnerwetter noch die Kantate „Das Lied von den Wäldern“ hinterher, in der er plakativ die von Stalin angeordnete Wiederaufforstung der durch die Kriegshandlungen in Mitleidenschaft gezogenen russischen Wälder pries, ohne dass jemand bemerkte, dass ihm auch hier der Schalk förmlich aus den Augen blitzte (nach dem Motto: Generalissimus Stalin wird nicht für seinen großen Sieg im Krieg geehrt, sondern für eine Banalität wie das Aufforstungsprogramm). Die Neunte aber verschwand trotz gewisser internationaler Verbreitung schnell im Giftschrank der sowjetischen Kulturbürokratie und wurde erst viele Jahre später wieder aus diesem entlassen – auch heute allerdings hört man sie deutlich seltener als die Achte oder gar die sehr populäre Siebente. Zu diesem ganzen Problemkomplex finden sich in Schostakowitschs von Solomon Wolkow herausgegebenen inoffiziellen Memoiren äußerst aufschlußreiche Gedanken des Komponisten. Die Doppelbödigkeit braucht im eröffnenden Allegro nur ein paar Takte, um sich erstmals zu entfalten: Der scheinbare Frohsinn wirkt erzwungen, und das hat Fiore messerscharf erkannt und gibt damit den Auftakt zu einer enorm guten Interpretation dieses Werkes. Der nötige Groove sitzt diesmal auf Anhieb, der Dirigent tänzelt auf seinem Pult leichtfüßig hin und her, das Blech liefert programmgemäß herrlich dämliche Terzen, die Solovioline agiert geradezu kindisch, und das Satzende kommt ziemlich plötzlich und liefert so gar nichts, was irgendwie markant wäre – programmgemäße Banalität also, und die ist durchaus nicht leicht umzusetzen, aber an diesem Abend gelingt das ohne Wenn und Aber. Der Moderato-Satz liefert interessante, leicht entrückte Bläserkammermusik, später fahle Streicher mit pseudodüsterem Anstrich. Hier herrscht auch mal kurz ungeplante Unordnung, aber die Klangwirkungen sitzen paßgenau, und Fiore gestaltet das Ganze sehr behutsam, woran er gut tut. Im Presto bekommt der Dirigent die Unordnung auch schnell wieder in den Griff. Hier setzt er den Ironiefaktor wieder plakativ weit nach oben, und wenn die Trompete hier zum Kampf bläst, dann ist klar, dass keiner dem Aufruf folgen wird. Im Largo entwickelt sich zunächst ein Blechbläserchoral, und dessen Ausdruck kommt die Saalakustik zugute: Der Klang geht in die Breite, und so wird das Ganze nicht zu monumental. Schostakowitsch zeigt hier immer wieder, dass er etwas Großes hätte schreiben können, wenn er das denn gewollt hätte – das hochspannende Fagottsolo über den Tiefstreicherteppichen im Pianissimo hätte auch in ein „ernstes“ Werk gepaßt. So tief ist die Trauer aber dann eben doch wieder nicht, wenn das zweite Fagottsolo plötzlich in locker-flockiges Gehopse mündet. Da sind wir dann auch schon im letzten Satz, einem Allegretto (die letzten drei Sätze erklingen jeweils attacca), und hören die erwartete banale Leichtigkeit erneut. Fiore und das Orchester meistern die schwierige Aufgabe, das Tempo eher unterschwellig zu halten, erstklassig, und alles bleibt lange irgendwie gedämpft, bevor eine wieder hervorragend gestaltete Überleitung zu zirkusartigen Klängen folgt – ein typisches Stilmittel Schostakowitschs, das auch in „ernsten“ Werken seine strukturelle Wirkung entfaltet, in der hier zu findenden Umgebung aber nochmal eins draufsetzt und dem Affen reichlich Zucker verabreicht. Und das auf die 2 kommende Becken steht akustisch gaaaanz weit im Hintergrund. Urplötzlich ist auch dieser Satz Geschichte, und das Publikum ist so verwirrt, dass lange Zeit keiner applaudiert, weil man nicht glaubt, dass das Werk schon zu Ende ist, so gekonnt hat Schostakowitsch und in seinem Gefolge Fiore und die Robert-Schumann-Philharmonie das Auditorium an der Nase herumgeführt. Fein! Roland Ludwig |
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