Musik an sich


Reviews
Neumeier, J. / Auerbach, L.

Die kleine Meerjungfrau (DVD)


Info
Musikrichtung: Ballett

VÖ: 7.11.2011

(C major / Naxos / 2 DVD / 2011 / Best. Nr. 708608)

Gesamtspielzeit: 154:00



IN SEICHTEM GEWÄSSER

Keinen leichten Auftrag erteilte das Königlich Dänische Ballett dem Choreographen John Neumeier, als es zu Hans Christians Andersens 200. Geburtag eine getanzte Version seines wohl berühmesten Märchens „Die kleine Meerjungfrau“ bestellte: Immerhin muss hier ein Wesen auf der Bühne agieren, dessen Hauptproblem es nun einmal ist, keine Beine zu haben. Dies allerdings wird durch eine geschickte Kostümwahl und Bewegungen, die die grazile, zerbrechlich wirkende Tänzerin Yuan Yuan Tan zum Teil getragen von anderen Tänzern in der Luft vollführt, sehr gut aufgefangen und in ein durchdachtes Bühnenbild eingebettet. Die musikalische Grundlage für die Bewegungen bildet eine von Lera Auerbach extra für dieses Ballett ersonnene Musik. Das heißt: Ob die Musik wirklich die Grundlage ist, darf bezweifelt werden. Vielmehr scheint sie den Bewegungen unterlegt worden zu sein, denn Auerbachs leicht angeraute Pentatonik kommt derart unverbindlich daher, dass sie eigentlich jederzeit zu allem passt. Ein „Fits for all-Sound“, der keinerlei bleibenden Eindruck hinterlässt und im Gegenteil nach einer gewissen Zeit eher störend wirkt.

Aber dies ist nicht das einzige Problem, mit dem die Produktion zu kämpfen hat, die nach Erfolgen in Kopenhagen und Hamburg 2010 in San Francisco ihre Amerika-Premiere feierte. Fast staunt man, dass sie nicht dort ihren Ausgangspunkt nahm, denn amerikanisch im schlechtesten Sinne sind viele ihrer Elemente. Immer wieder gleiten die Bilder und Figuren ab in süßlichen Broadway-Kitsch. Da ist zum einen die Figur des Dichters: Er agiert – teils eher am Rande - als Beobachter und Kommentator des Geschehens. Nun ist es zweifellos richtig, dass Andersens Meerjungfrau vom unglücklichen Liebesleben des Dichters inspiriert ist. Wie jede gute Literatur, die mehr sein will als selbstmitleidiges biographisches Abbild, emanzipiert sie sich aber von ihrem Schöpfer und gelangt erst so zu ihrem eigentlichen Wert und ihrer übergreifenden Relevanz. Neumeier macht diesen emanzipatorischen Schritt rückgängig und beraubt sich zudem jeder weitergehenden Interpretationsmöglichkeit, wenn er den Dichter in die Dichtung einbindet.
Das wäre vielleicht noch verzeihlich, wenn Lloyd Riggins nicht mit der clownesken Gestik und Mimik eines verstörten Pierrot agieren würde, die einem die Figur dann endgültig verleidet. An vergleichbarer Eindimensionalität leiden auch die übrigen Charaktere: Ein Prinz, der sowohl bezüglich der Hasenpfote im Schritt (die hier wohl eher ein Hasenkopf sein dürfte), als auch hinsichtlich seines Auftretens im Übrigen einem US-Pornostar gleicht. Dazu eine betont ländlich-biedere, backfischhafte Prinzessin und eine Seehexe im Star Wars-Outfit. Dass dann noch Matrosen auftreten, die unter dem Motto „Pierre & Gilles meets BelAmi“ stehen könnten, dass der Prinz beim Golfspielen von seiner Yacht ins Wasser fällt – geschenkt.
Märchenhaft ist hier jedenfalls nichts, auch noch nicht einmal kitschig, sondern das Meiste schlicht oberflächlich. Schade, dass es ausgerechnet diese schwache Produktion des ansonsten so stilsicheren, innovationsfreudigen Neumeier ist, die eine derartige Aufmerksamkeit und einen solchen Vermarktungsaufwand erfährt.



Sven Kerkhoff



Besetzung

Yuan Yuan Tan: Die kleine Meerjungfrau
Lloyd Riggins: Der Dichter
Tiit Helimets: Der Prinz
Sarah van Patten: Die Prinzessin
Davit Karapetyan: Die Seehexe

San Francisco Ballet

Lera Auerbach: Musik
Martin West: Dirigent
John Neumeier: Choreographie, Bühnenbild, Kostüme, Beleuchtung



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