THESSERA – Progressive Metal aus Brasilien
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Januar, das ist den meisten Magazinen die Zeit für Rückblicke auf die vergangenen zwölf Monate und das Aufstellen von Jahresbestenlisten. Bei der Frage nach den besten oder interessantesten Debütanten wäre der Name THESSERA dort wahrscheinlich gut aufgehoben. Noch nie gehört oder klingt einfach komisch? Dieser Artikel bringt etwas Licht ins Dunkel.
Thessera, das sind sie sechs Brasilianer Marcelo Quina am Mikrofon, Marcello Mattos an den vier Saiten, Fernando Cerutti hinter den Kesseln, Rodolfo Amaro an den Keyboards, sowie die beiden Gitarristen Raphael Lamim and Nando Costa. Trotz ihres noch recht jugendlichen Aussehens sind die sechs alles andere als musikalische Waisenknaben. So bekam z.B. Marcelo Quina seine Musikalität durch seinen Vater (ein professioneller Musiker) mehr oder weniger in die Wiege gelegt, während Raphael Lamim und Nando Costa beiderseits Musik studierten. Vor Thessera waren alle Mitglieder der Band in zahlreichen lokalen Bands zu Werke und tanzten auf vielen Hochzeiten damit. Ob Metal, Pop, Brasilianische Musik, Jazz, Soul oder Soundtracks. Diese verschiedenen Richtungen spiegeln sich auch im musikalischen Cocktail den die Band bietet wieder. Kein Wunder, dass Thessera stilistisch grob in die Schublade „Progressive Metal“ gesteckt werden. Wobei die Band selbst nicht gerade Freunde solcher Genrebezeichnungen ist: „Die Kategorisierung einer Band ist eine komplexe Frage. Das Ziel von uns ist, unseren Metal-/Rock-Background mit anderen musikalischen Einflüssen zu mischen um neue Strukturen und Klanglandschaften zu erschaffen. Sofern man dies Progmetal nennt, soll uns das recht sein. Andererseits kann dieser Stempel auch Leute abschrecken, die nicht wissen was eine Progmetal-Band sein soll.“ So weit, so gut. Hat man das stilistische Terrain einmal abgesteckt, stellt sich als nächstes unweigerlich die Frage, wie die 2003 gegründete Band zu ihrem Namen kommt. Gitarrist Nando Costa schmunzelt etwas bei dieser Frage und gibt zu Protokoll: „Nun das war so: Eines Tages als ich in der Universität bei einem Kurs über Analytische Geometrie saß, fühlte ich mich ziemlich müde und träumte etwas vor mich hin. Als ich wieder zu mir kam, erinnerte ich mich, dass ich träumte in einem Tesserakt zu schweben (ein vierdimensionaler Würfel – Anm.d.Red.). Das fühlte sich so verrückt an, dass ich dies einfach nicht vergessen konnte. Als es darum ging einen Namen für unsere Band zu finden, fiel mir dies wieder ein.“
Nachdem das nun geklärt ist, widmen wir uns dem Debüt der Band. Fooled eyes ist mehr als nur ein respektables erstes Album einer von tausenden Bands, welche jedes Jahr um die Gunst der Musikfans buhlen, sondern ein schwermetallischer Parforceritt durch Gefühlwelten. Solides Kopfkino eben, ganz in der Tradition der Genreprimen Dream Theater, Symphony X oder Pain of Salvation. Keine schlechten Vorbilder also. Thessera wollen hoch hinaus. Und so legt das Sextett nicht nur eine einfache Sammlung mehrer Songs vor, sondern, recht ungewöhnlich für einen Newcomer, ein komplettes Konzeptalbum mit einer ausgearbeiteten Geschichte. Dies war allerdings kein erklärtes Ziel der Band, sondern entwickelte sich sehr natürlich während des Schreibprozesses. Dabei erwies sich dieses Format schnell als sehr passend für die musikalische Intention der Band: „Unser Ziel war es die Emotionen der Texte durch die Musik auf eine Art zu transportieren, dass der Klang und die Texte ein harmonische Bild ergeben. Als es sich langsam zu einem Konzeptalbum entwickelte, bedeute dies, dass wir neben der Musik weitere Elemente wie gesprochene Teile, Soundeffekte und auch ein entsprechendes Artwork verwenden konnten. Dies gibt dem Album mehr Leben“. Besonders Letzteres war der Band am Ende besonders wichtig. So sind im Booklet zu jedem einzelnen Song erläuternde Bilder und Malereien enthalten. Dies hat für Thessera am Endergebnis den gleichen Stellenwert wie die Musik selbst.
Wie schon erwähnt, erzählt Fooled eyes, wie man es von einem Konzeptalbum erwartet, eine zusammenhängende Geschichte. Da diese am Anfang etwas verwirrend klingt, baten wir die Band sie in einigen Worten zu wiederzugeben: „Unser Fooled eyes handelt von einem jungen Künstler namens Andrew Hesser, der momentan den schönsten Augenblick seines Lebens erlebt: die Feier zur Verlobung mit Jeanne Seamus („Le Chef d’Oeuvre“, „Party’s On“). Während der Feier wird es ihm plötzlich schlecht und er wird ohnmächtig. Von dort an befindet er sich auf der Reise durch sein Unterbewusstsein („The gallery“). Er erinnert sich an die familiären Konflikte seiner Jugend („Broken psyches“, „Candlefire“), seine Träume, Enttäuschungen und die Liebe für Jeanne („The leading roles“). Stunden später erwacht er zu Hause. Beeindruckt von diesem Traum beantwortet er einen Telefonanruf und findet heraus, dass der wahre Albtraum gerade erst beginnt („Inverse“, „Conflageration“, „Heaven’s gate“)“. Klingt alles nicht wirklich neu, was der Band selbst auch bewusst ist. Man sieht sich allerdings nicht als reine Kopisten. „Es gibt verschiedene Alben, Filme oder Bücher die uns unterbewusst beeinflusst haben. Aber der Punkt ist, dass wir die Dinge auf unsere eigene Art und Weise tun. Wir bringen einen Teil von uns selbst in das Existierende ein. Klänge, Texte und Bilder sollen Gefühle wie Liebe, Hass, Neid, Freude, Sorgen, Frustration, Sehnsucht und Angst transportieren. All dies ergibt ein Ganzes welches uns fasziniert, etwas das auch in vielen Science Fiction-Werken verarbeitet wird. Dieses Ganze repräsentiert die Frage: Was ist real?“
Aber nicht nur der Hintergrund der Texte ist bis ins Letzte ausgearbeitet, auch die Musik dazu ist äußerst detailreich. So wurden in das recht traditionelle Rock- und Metalgerüst Teile aus den Genres Klassik (Keyboarder Rodolfo Amaro ist gelernter Klassikpianist), Jazz/Fusion (Nando Costa und Marcelo Mattos haben ein Fusion-Nebenprojekt) und (bedingt durch ihre Herkunft) auch traditioneller brasilianischer Musik integriert. Verständlicherweise hat diese einen besonderen Stellenwert für die Band. „Brasilianische Musik ist reich an unterschiedlichen Rhythmen und Melodien, wovon wir auch profitieren. Auf Fooled eyes sind viele Beispiele verstreut. Z.B. das Riff nach dem ersten Refrain in „The gallery“. Dieser Groove ist eine adaptierte Version aus Baião, ein typischer Musikstil aus dem Nordosten Brasiliens. Ein weiteres Beispiel ist der gegensätzliche Teil des instrumentalen Intermezzos in „Broken psyches“. Wir verwendeten Choro für diesen Teil. Ein Stil der während des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt wurde und ähnlich wie barocke Musik klingt. Nur, dass er mehr chromatische Noten enthält.“
Die Entstehungsgeschichte von Fooled eyes zog sich über einen langen Zeitraum hin. So nahm das Schreiben und Arrangieren der Songs bereits ein halbes Jahr in Anspruch, ohne dass nur ein Ton aufgenommen war. Danach dauerte es nochmals fast ein Jahr bis die Band ihr selbstfinanziertes Produkt endlich in CD-Form in den Händen halten konnte. In dieser Zeit galt es zahlreiche finanzielle Probleme und notwendige Aufnahmepausen, da das anvisierte Studio nicht immer zur Verfügung stand, zu überbrücken. Das Endergebnis war den Aufwand aber wert, wie die Band meint: „Ungeachtet aller Zwänge sind wir mehr als zufrieden damit, was wir erreicht haben. Besonders wenn man die Umstände bedenkt.“ Nachdem man eine Zeitlang ein Zuhause für sich suchte und zahlreiche Promos an nationale Magazine, Radiosender und Webzines verschickte, wurden Thessera überraschenderweise im amerikanischen Label ProgRock Records fündig. Dies war letztlich auch ein Verdienst des in Colorado ansässigen Radiosenders Progulus, bei dem die Songs von Thessera des Öfteren im Programm landeten.
Über ProgRock Records sind Thessera jetzt auch in Europa gelandet. Nun liegt es unter anderem an den Fans in Europa, ob neben Sepultura oder Angra auch Thessera in Zukunft unter dem Banner „Quality made in Brazil“ wahrgenommen werden. Europa erachtet die Band neben den USA als den wichtigsten Markt für ihre Art von Musik und sie kann es kaum erwarten hier livehaftig in Erscheinung zu treten. Momentan ist anvisiert, kommenden September oder Oktober in unsere Breitengrade zu kommen. Auf die Frage, was man für den Unterschied zwischen der brasilianischen und europäischen oder amerikanischen Musikszene hält, bekommt man folgendes von Thesserea zur Antwort: „Ich denke der Größte Unterschied ist, dass wir hier zwar viele Festivals über das ganze Jahr verteilt haben, aber sie sind alle sehr klein, underground eben. Weiter haben wir hier nicht besonders viele Klubs die Bands wie unsere auftreten lassen. Dies macht es sehr schwierig für Newcomerbands eine ganze Tour zu organisieren. In Brasilien werden Bands auch erst so richtig zur Kenntnis genommen, wenn diese wirklich populär oder bereits international erfolgreich sind. Man muss wirklich um die Aufmerksamkeit der Hörer kämpfen. Es existiert eine große Anzahl beachtenswerter Musiker welche vergessen wurden und keine Unterstützung erhalten um eine CD aufzunehmen und promoten zu können. Man muss eigene Ressourcen investieren um sein Album anzunehmen, pressen, bewerben und vertreiben zu können. Da dies einen sehr großen Aufwand bedeutet, geben viele Bands auf, bevor sie ihre Ziele erreichen.“ Also geben wir der Band eine Chance ihren Weg zu machen. Verdient haben sie es allemal.
Mario Karl
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