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Zeit: 08.05.2010
Ort: Köln
Besucher: 1100
Veranstalter: MusikTriennale Köln
Herrlich uncool ...
Stockhausen ist so herrlich uncool. SCHÖNHEIT, BALANCE, GLÜCK und HARMONIEN: Wer denkt bei solchen Titeln nicht sofort an Schlagworte aus der spirituellen Lebensberatung oder dem Feng Shui? ORVONTON, NEBADON, EDENTIA - stammt das jetzt aus Star Treck oder Star Wars? Nein - aus dem Buch Urantia! Aber dazu später. Unbesorgt um irgendwelche fremddiktierten Avantgarde-Ansprüche, um aktuelle Moden, Trends und Neue-Musik-Coolness hat Stockhausen nach seinem Opernzyklus "LICHT. Die sieben Tage der Woche" (Arbeitszeit: rund 26 Jahre) sein nächstes Projekt "KLANG. Die 24 Stunden des Tages" ohne Verzögerung in Angriff genommen. Und auch aus diesem Zyklus hat er ein beredtes Zeugnis seiner musikalischen Ästhetik gemacht, die zwischen Kunst, Leben und Religion ebenso wenig eine Grenze zieht wie zwischen den Stilen, Genres und Formen. Nur neu, unbekannt, faszinierend musste es für Stockhausen sein - dann kannte sein Elan bei der Umsetzung auch der verrücktesten Ideen keine Grenzen.
KLANG auf der MusikTriennale Köln
Die MusikTriennale Köln machte es möglich: Sämtliche Stunden-Stücke konnte man am 8. und 9. Mai 2010 in einem aufwendigen Konzertmarathon an bis zu neun Spielorten in der Stadt erleben, perfekt organisiert und von den Musikern der musikFabrik und zahlreichen Gästen vollendet dargeboten. Dass man sich, auch mit Hilfe eines Online-Managers, sein Programm frei, mit Mut zur Lücke zusammenstellen und zwischen den Aufführungen in einiger Muße hin und her flanieren konnte, entsprach der Absicht des Komponisten und macht aufgrund der ähnlichen Bauart zahlreicher Stücke durchaus Sinn. Wie LICHT ist KLANG ein Mobile aus minutiöser Planung und kreativer Offenheit, überraschendem Gestaltreichtum und klar erkennbaren Ordnungsstrukturen. Allerdings ist KLANG unvollendet geblieben. Über das, was nach der 21. Stunde mit dem bezeichnenden Titel PARADIES hätte kommen sollen, kann man nur spekulieren - es gibt keine Skizzen dafür. Der Titel dieses letzten Stückes markiert zumindest einen vorläufigen Schlusspunkt und auch formal wirkt der Torso in sich abgeschlossen.
Unverwechselbar ist die eigenwillige Mischung aus Experiment und Zugänglichkeit, von konzertanten und theaterhaften Elementen, technischem Kalkül und pathosfreier Herzensfrömmigkeit, handfesten musikalischen Tatsachen und esoterisch aufgeladenem Humor.
Im Vergleich mit der epischen Breite und Monumentalität von LICHT gibt sich KLANG wesentlich konzentrierter und ökonomischer im Einsatz der Mittel. Schon das Basismaterial wurde gewissermaßen elementarisiert: Statt einer in allen Details durchgestalteten dreistimmigen Superformel genügen jetzt zwei zwölftönige Allintervallreihen, die alle Möglichkeiten offenhalten. Auch handelt es sich bei KLANG im Wesentlichen um eine Folge von Kammermusiken. Soli-, Duo- und Triobesetzungen überwiegen. Die Stücke währen im Mittel eine halbe Stunde. Ausnahmen wie der „Zyklus im Zyklus“, die 24 Stücke von NATÜRLICHE DAUERN für Klavier(resonanzen), oder das variable Instrumentalsolo HARMONIEN bestätigen mit etwa 140 bzw. 15 Minuten Spieldauer die Regel.
Gibt es Referenzen, die auf Bekanntes verweisen? Einige „bekenntnishafte“ Stücke mit elektronischer Musik (Nr. 14-21) riefen Erinnerungen an die außerirdischen Besucher von SIRIUS wach. Die NATÜRLICHEN DAUERN gemahnten an MANTRA, mitunter aber auch an die abstrakten seriellen KLAVIERSTÜCKE der 1950er und 60er Jahre, gaben sich aber im ganzen schmiegsamer und affektbetonter. Bei den "rotierenden" instrumentalen Trios (Nr. 6 bis 12) musste ich häufiger an die melodischen Klangwelten der TIERKREIS-Melodien, an den kecken HARLEKIN für Klarinette und zahlreiche kleinere Werke von Stockhausen vor allem aus den 1970er Jahren denken, IN FREUNDSCHAFT beispielsweise. Bei den Trio-Besetzungen hat Stockhausen auf von ihm geschätzte Instrumente gesetzt: Die große Familie der Holzbläser, vor allem Klarinetten und die Flöte, auch die Trompete findet sich, hingegen nur sehr Weniges für Streicher. Was auffällt - und auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel - ist an der klanglichen Oberfläche ein Weniger an geräuschhaften oder außergewöhnlichen Klangeffekten und ein Mehr an schönem, vollem Ton. Der freilich kann das Ergebnis subtil artikulierter Klangfarbenmischungen sein, was man vor allem bei vielen instrumentalen Trios oder den differenzierten Anschlagsarten und Resonanzräumen des Klaviers in NATÜRLICHE DAUERN hören konnte.
Ein Stück in vielen Stadien
Ausgehend von der alten christlichen Vorstellung des Stundengebets, das die Tageszeiten durch Gebet und auch Musik heiligt, hat Stockhausen jeder Stunde des Tages ein Musikstück gewidmet, das die besondere Qualität der einzelnen Stunde vergegenwärtigen soll. Die Titel vieler Stücke bringen das unmittelbar zum Ausdruck: HARMONIEN, SCHÖNHEIT, BALANCE, GLÜCK, HOFFNUNG, GLANZ, TREUE, ERWACHEN … für Stockhausen „edle Worte“ und Zeugnisse seiner optimistischen Weltsicht. Der Zyklus der 24. KLANG-Stunden ist im Wesentlichen ein „Kreis der Freude“ (FREUDE ist übrigens auch gleich der Titel der 2. Stunde), die Stunden haben den Charakter von Festzeiten, in denen der (All)Tag transzendiert wird.
Es überwiegen eine spielerische Leichtigkeit und ein entspannter Humor.
Allerdings: Wenn in der 4. Stunde der Widerstand einer fest verschlossenen hölzernen HIMMELS-TÜR die leidenschaftlichen Attacken eines Schlagzeuger (mit vollem Körpereinsatz: Stuart Gerber) provoziert, zeigt der Zyklus durchaus dramatische Seiten. Andererseits würde die klangliche Askese einem Zen-Ritual gut anstehen. KLANG besitzt also verschiedene Gesichter, wie die Tages- und Nachtzeiten auch. Immer wieder finden sich Momente der Verinnerlichung und Kontemplation, sozusagen der Überschreitung nach Innen - wie in den NATÜRLICHEN DAUERN - aber auch der Entfesselung bzw. Entgrenzung nach Außen - wie in den gewaltigen elektronischen Klangentladungen der 13. Stunde, deren Titel COSMIC PULSES einen Wandel angekündigt: den Aufbruch in überirdische Räume. Ein Impuls, den die launige Mystik der späteren Stunden mit Titeln wie HAVONA, ORVONTON, UVERSA, oder EDENTIA aufgreift und weiterführt, bis das PARADIES in der 21. Stunde erreicht ist. Die 13 hat für den Numerologen Stockhausen ja immer schon eine besondere und ambivalente Bedeutung gehabt: Tod und Auferstehung, Abschied und Neubeginn. In KLANG beginnt mit der 13. Stunde die zweite Tageshälfte, die nach den rein akustischen Besetzungen der Trios wieder elektronische Klänge in Spiel bringt.
Zum Set einer KLANG-Aufführung gehören auch die Farben der Kostüme auf Basis des HKS-Farbfächers oder bestimmte Beleuchtungseffekte wie bei der 10. Stunde: GLANZ, wo die Bühne in ein geheimnisvolles, schimmerndes Licht getaucht sein soll. Doch nicht nur hier bleibt Stockhausen seiner integrativen, religiös motivierten Ästhetik treu: Denn wie im traditionellen Stundengebet sind die KLANG-Stücke (auch) als Meditation bzw. religiöse Andacht gedacht und mit - musikalisch motivierten - Gesten und Bewegungen sowie frommen Motti durchsetzt. Alles vorzustellen, würde den Rahmen sprengen. Deswegen hier nur einige besonders einprägsame Konzerterlebnisse:
FREUDE
Die 2. Stunde: FREUDE war für mich mit das glanzvollste Stück des ganzen Zyklus. Eine perfekte Synthese aus Instrumentalklang und Vokalklang, Text und Musik, Spiritualität und Metierbeherrschung. Zwei singende Harfenistinnen, das lässt das Schlimmste befürchten - doch allein, wie Stockhausen hier eine höchst heikle, da doppelt klischeebesetzte Instrumentalkombination klanglich meistert, lässt nie an ein geschmäcklerisches Spätwerk denken. Vielleicht kann eine Harfe ja gar nicht anders als schön klingen, sehr wohl aber bloß hübsch virtuos oder einfach nur biedermeierlich verbraucht. Dies ist hier aber nicht der Fall. Indem zwei Instrumente zu einer einzigen chromatischen Harfe verbunden werden, hat der Komponist die Gestaltungsspielräume generös erweitert. Stockhausens Klangphantasie beim Spiel auf dieser exotischen „Superlaute“ scheint unbegrenzt, mitunter rauschhaft, achtet aber zugleich die besonderen Eigenarten der Instrumente. Und dazu dann der Gesang: die 24 Zeilen des Veni creator spiritus, die für diesen „Tag im Tag“ gleich noch das passende Formskelett lieferten, wirkten in der großartigen Darbietung von Marianne Smits und Esther Kooj und getragen von der vollen, reifen Kirchenakustik der Andreas-Kirche wie eine Mischung aus Gregorianik und Kabuki, inklusive vogelartiges Zwitschern und kindliches Juchzen. Ein Jubilus für’s 21. Jahrhundert! Wirklich: Fremde Schönheit.
URANTIA & Co.
Die deutlich religiöse Akzentsetzung prägt die meisten KLANG-Stücke mehr oder weniger offen - da geht Stockhausen nicht hinter LICHT zurück, im Gegenteil. Sei es, dass die Musiker kurze lobpreisende Anbetungen wie „Gloria in excelsis“ in die Musik hineinsprechen (Triobesetzungen). Sei es, dass die Welt der Urantia Books, einer angeblich durch kosmische Wesenheiten übermittelten christlich-esoterischen Offenbarungsschrift aus den 1950er Jahren, in den Titeln und gelegentlich recht ausführlichen „Botschaften“ der 14. bis 21. Stunde Gestalt gewinnt: HAVONA, ORVONTON, UVERSA, NEBADON, JERUSEM, URANTIA, EDENTIA oder PARADIES sind Bezeichnungen für mehr oder weniger transzendente Welten, Universen und Superuniversen bis hin zur Wohnung Gottes.
In ORVONTON, dem Stück zur 15. Stunde, verkündet beispielsweise ein orange gewandeter Bariton als musikalischer Botschafter des gleichnamigen „Superuniversums“ Urantia-Basiswissen, das mit Erläuterungen zum aktuell zu hörenden Stück verschmolzen wurde. Ein Szenario, das an die SIRIUS-Welt erinnert. Stockhausens Botschaft ist klar: Diese Musik will kosmische Zusammenhänge, Sternenbewegungen, Himmelsordnungen, musikalische und göttliche Geheimnisse vorstellen. Zwischen Glaube und Kunst, Kunst und Mystik gibt es keinen wesentlichen Unterschied. Eine Bekenntnismusik? - sicherlich auch, aber eine augenzwinkernde mit handfesten musikalischen Tatsachen!
Das Libretto und seine musikalische Fassung bleiben immer genau bezogen auf eine dreischichtige elektronische Klangspur, die um das Publikum herum rotiert. Rein musikalisch mutet das geradezu balsamisch (Stimme) bzw. funkelnd (Elektronik) an. Und der Sänger der Kölner Aufführung, der von den Philippinen stammende Jonathan de la Paz Zaens, füllte schon vom Typ her die Rolle mit der nötigen Exotik, darüber hinaus aber auch ausgesprochen charismatisch aus. Inhaltlich wirkt diese Nummer natürlich erst einmal höchst skurril: „Vierhundertvierzig Hertz sind weder schön noch hässlich.“ Und: „Kunstmusik ist nicht Tingeltangel“. Das Publikum hat es mit Erleichterung vernommen! Eine unklassifizierbare Melange aus Sakralem und Karneval, aus Predigt und Büttenrede, die Stockhausen, dem katholische Rheinländer, hörbar eine Menge Spaß bereitet hat.
Dieses wie auch die übrigen Stücke der 14. bis 21. Stunde gründen auf jeweils drei elektronischen Klangspuren („Schleifen“) aus dem 13. Stück COSMIC PULSES, zu denen wahlweise eine Stimme, ein Instrument oder beides treten kann.
COSMIC PULSES
COSMIC PULSES selbst ist eine gewaltige und raumgreifende elektronische Komposition, sozusagen der große Brocken des Zyklus und ein Fest für die Freunde elektronischer Klänge. Das Stück fungiert wie eine große eine Drehscheibe, die das Material der Vorgängerstücke aufgenommen hat und nun verzerrt, gestaucht oder gespreizt und mit extrem ausgereizter Dynamik in den Raum zurückwirft. Die Klangfarben, eine Mischung aus Orgel, Klavier, Metallschlagzeug & Glockenklang, finden sich übrigens schon beim 1. Stück, HIMMELFAHRT, wo sie vom Synthesizer gespielt werden und noch etwas grau und kühl wirken. Sie scheinen mir hier viel besser am Platz. Sie werden in Gestalt von 24 unterschiedlich getakteten melodischen Schleifen achtkanalig auf immer neuen Bahnen durch die Lautsprecher gejagt. Dies ist ein Stück, das für große Raumvolumen komponiert wurde. In der Philharmonie entstand ein Torus, ein Zyklon, ein Partikelsturm oder eine expandierende Galaxie in Form von rotierenden Tonhöhen, die durch Be- und Entschleunigungen sowie Glissandi unter zusätzliche Spannung gesetzt wurden - ein ungeheuer eindrucksvolles Klangerlebnis in 3D, brachial und subtil zugleich.
Bei dieser Sternenmusik entwickelten die offenbar aus den Sounds Orgel, Schlagzeug und Glocken gemischten Klangfarben entweder ob ihrer tieffrequenten Massivität eine bedrohlich eiernde Wucht oder sie erglühten in den höchsten Lagen wie ganze Schwärme von Sternschnuppen. Von prästabilisierter Harmonie keine Spur. COSMIC PULSES ist ein offenes Spiel der Kräfte, das auf dem Höhepunkt, wenn alle Schleifen in Aktion getreten sind, gleichsam durch seine eigene Klangmasse zusammengehalten wird. Stockhausen sah darin eine nach außen drehende Spirale, mehr eine Klangskulptur als ein typisches Musikstück. Die prinzipielle Einfachheit des Verfahrens (übereinandergeschichtete Loops) und das komplexe Hörerlebnis stehen in einem interessanten Missverhältnis.
COSMIC PULSES sind KLANG in der Totalen, ein Schmelztiegel und Teilchenbeschleuniger mit schier unzählbaren räumlichen und klanglichen Konstellationen. Beim Hören stellten sich merkwürdige psychoakustische Effekte ein und ich war froh, dass nicht nur ein einzelner Spot den Raum erhellte, sondern die Notbeleuchtung auf den Rängen mich nicht vergessen ließ, dass ich mich in der Philharmonie befand. Schließlich stand mir das Bild der vielarmigen Hindugottheit Shiva vor den inneren Augen: in ihrem Feuerrad tanzend, ein Erbauer und Zerstörer zugleich.
Auch wenn KLANG so etwas wie Stockhausens Schwanengesang geworden ist, hoffe ich doch, dass er sich in Köln schließlich auch als ein großes Vorspiel entpuppen wird: Zur ersten Gesamtaufführung der Oper SONNTAG aus LICHT nämlich, die wegen ihres Umfangs in zwei Teilen am 8. und 9. April 2011 in den Messehallen Premiere hat.
Übrigens sind bereits eine Reihe der hier vorgestellten KLANG-Stücke beim Stockhausen-Verlag/Kürten auf CD erschienen und können dort exklusiv bestellt werden: www.stockhausen.org
Georg Henkel
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