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Robbie Robb befasst sich auf dem aktuellen Tribe after Tribe-Album mit der Eroberung des heutigen Palästinas durch das Volk Israel. Er wertet diesen Vorgang als Genozid. Kann man das bereits als eine Art von Anti-Semitismus bezeichnen?
Aus diesem Anlass liefert euch der studierte Theologe Norbert von Fransecky einige Hintergrundinformationen, die beim fundierten eigenen Urteil helfen können.
Der biblische Bericht
Abraham bricht aus seiner Heimat im Norden des heutigen Iraks auf. Gott hat ihn dazu aufgefordert und ihm im Falle seines Gehorsams versprochen, ihn in der Fremde zu einem großen Volk zu machen. Abraham zieht nach Palästina (den Namen gibt es noch lange nicht) und lebt dort mit seiner Sippe als Nomade. Immer wieder kommt es zu Konflikten mit den dort ansässigen Völkern - keinen Nomaden, sondern Stadtbewohnern. Er hat einen Sohn Isaak und einen Enkel Jakob. Diese beiden Generationen setzen das nomadische Leben Abrahams fort. Jakob muss in einer Dürreperiode das Land verlassen. Er geht mit seinen 12 Söhnen nach Ägypten. Dort wird der Stamm versklavt und vermehrt sich stark. Etliche Generationen später beruft Gott Moses, der das Volk befreit und zurück in das Land führt, das Gott Abraham geschenkt hat.
Dieses Mal werden die dort lebenden Stämme angegriffen und ihre Städte erobert. Die von Moses Befreiten teilen sich nach Stämmen geordnet (die Nachkommen der 12 Söhne Jakobs) in 12 Siedlungsgebiete auf. Eine einheitliche Regierung gibt es noch nicht. In Krisenzeiten beruft Gott einen sogenannten Richter, der das Volk führt und nach Lösung seiner Aufgabe wieder ins Glied zurücktritt. Daraus entwickelt sich letztendlich ein Königtum, das die Stämme zu einem Reich eint. Ein in der Bibel sehr umstrittener Vorgang. Im Wunsch nach einem König wurde Untreue gegen Gott, den eigentlichen König, gesehen. Mit der Einführung des Königtums wird daher auch das Königsrecht eingeführt. Der König bekam, gleichsam als Strafe für die Untreue des Volkes, das Recht Steuern zu erheben, das Volk zu Frondiensten heranzuziehen und Länderein als Belohnung für seine Funktionäre zu requirieren.
Die historische Realität
Soweit die biblische Darstellung. Historisch ist sie nicht. Wahrscheinlich hat sich das Ganze folgendermaßen abgespielt:
Im heutigen Palästina lebte ein lockerer Verbund von Nomaden. Wie jedes Volk gab es Legenden und Mythen, die das Entstehen der Welt und die Herkunft der Menschen erklärte. Im Mittelpunkt dieser Legenden stand ein legendärer Urvater namens Isaak. Mit ihm und seinem Gott El wurden auch die Gebote in Verbindung gebracht, die ein möglichst konfliktarmes Miteinander in einer Umgebung garantierte, in der jeder Tag ein Kampf um das Überleben war.
Diese Nomaden waren allerdings nicht die einzigen Bewohner der Region. An den fruchtbaren Stellen hatten sich Städte entwickelt, die Ackerbau und Viehzucht betrieben, von Königen regiert wurden und den Umkreis ihrer Städte beherrschten. Mit diesen Städten standen die Nomaden in Konkurrenz. Oft gab es Konflikte - insbesondere wenn die Nomaden in Notzeiten ihre Herden auf die bebauten Felder der Städte trieben oder Städte überfielen, um Nahrungsmittel zu erbeuten. Aber auch ideologisch wurde gestritten. Das relativ gute Leben der Städte weckte den Wunsch auch so zu leben. Und so begannen die Nomaden zu den Göttern der Städter (dem Baal) zu beten und auch für sich einen König zu fordern. Das wurde von den Priestern und den Richtern als Inbegriff des Götzendienstes verboten. Somit waren die Nomaden eine militärische Bedrohung für die Städte und die Städte eine ideologische Bedrohung für die Nomaden.
Eine ähnliche Nomadengruppe lebte östlich des Jordans in noch kärglicherer Umgebung. Ihr Stammvater hieß Jakob. Die Familie von Jakob war also nicht, wie in der Bibel, die auf Isaak folgende Generation, sondern ein Stamm der gleichzeitig, wahrscheinlich über mehrere Jahrhunderte, in einer benachbarten Region lebte. Auch die Abraham- und Moses-Gruppe existierten zeitlich parallel. Das alles dürfte sich zwischen 1.500 und 1.200 vor Christus abgespielt haben.
Dann begann ein Prozess, in dem diese vier (Abraham-, Isaak-, Jakob- und Moses-Gruppe) und vielleicht noch andere Gruppen langsam zusammen wuchsen. Dabei wuchsen auch die Erinnerungen und Legenden der einzelnen Stämme zu einer gemeinsamen Geschichte. Die Stammväter der wichtigsten Gruppe blieben in der Erinnerung lebendig und verschmolzen in einer aufeinander folgenden Familiengeschichte.
Abraham war ursprünglich wahrscheinlich der Stammvater einer Auswanderergruppe, die aus dem fruchtbaren Mesopotamien kam. Warum Abraham aufgebrochen ist, wissen wir nicht. Überbevölkerung? Abenteuerlust? Verbannung? Auf jeden Fall ist er mit massivem Gottvertrauen in sein neues Leben aufgebrochen, ein Hoffnung stiftendes Vermächtnis, das in den Mythen bewahrt wird.
Moses ist möglicherweise wirklich der Führer einer flüchtenden Sklavengruppe gewesen, die plötzlich in Palästina auftaucht - und dort nicht sehr willkommen war. Man nannte sie „Rumtreiber, Abschaum, Fremde, Landstreicher“, oder in der damaligen Sprache - Hebräer. Aber ihr Geschick hatte sie stark gemacht und sie behaupteten sich - auch mit ihrer Erinnerung an die wunderbare Befreiung aus der Sklaverei.
Als die Gruppen zu einer relativ geschlossenen Einheit zusammengewachsen waren, waren sie stark genug, sich mit den Städten zu messen. Manchmal dürfte es tatsächlich zu militärischen Eroberungen gekommen zu sein. Aber es dürfte auch hier oft ein einfacher Verschmelzungsprozess stattgefunden haben. Spätestens 1000 vor Christus war so aus Nomaden, Einwanderern, Flüchtlingen und Städten ein neues Volk geworden sein; ein Volk, dass die politische Struktur der Städte, das Königtum, und den Glauben der Nomaden angenommen hatte, den Glauben an den Gott El. Es war das Volk, das um den Segen Els kämpfte, Isra-El. Den Namen seines Gottes, JHWH, haben wohl die Moses-Leute mitgebracht.
Fazit
Die verschiedenen in der Darstellung des Alten Testaments mit- und gegeneinander kämpfenden Gruppen sind also zum großen Teil letztlich alle in den Staat mit eingeflossen, der dann den Namen Israel erhielt. Die Verdammungen, die im Alten Testament ausgesprochen werden, reflektieren an vielen Stellen einen Wandel in Religion und Kultur, der den Übergang von einem nomadischen zu einer sesshaften Lebenswandel und auch den Wandel von einer Lebensstruktur in Stammesverbänden hin zu einem festen Staatsgefüge, begeleitet hat. Dabei haben sich konservative und progressive Kräfte heftig miteinander über den richtigen Weg gestritten. Ins Alte Testament sind Texte aus beiden Gruppen eingeflossen, königskritische und königstreue, Texte einer Ackerbauer- und einer nomadischen Kriegerkultur.
Alle diese Texte gemeinsam (und einige mehr) machen das religiöse Erbe des Judentums aus. Man kann mit Hilfe dieser Texte also nur schwer irgendeine Art von Fremdenfeindlichkeit konstruieren.
Das Judentum
Zum Abschluss noch eine Bemerkung zu der Bezeichnung „Juden“. Bislang war ja nur von „Hebräern“ und dem „Volk Israel“ die Rede.
Der Staat Israel zerfiel 926 v. Chr in zwei Teile; Israel mit der Hauptstadt Samaria im Norden und Juda (benannt nach einem der zwölf Stämme Israel) mit der Hauptstadt Jerusalem im Süden. 722 wurde Israel von den Assyrern erobert und verschwand von der Landkarte. Die Bevölkerung wurde von den Siegern weitgehend assimiliert. Das Erbe des Volkes Israel wird nun alleine von Juda weiter getragen. 587 wird auch Juda erobert - von den Babyloniern. Damit endet (bis 1949) die staatliche Eigenständigkeit des Volkes Israel.
Anders als die Bevölkerung des Nordreiches assimiliert sich die Elite des Südreiches nie vollständig an die Sieger. Die israelische Volksgruppe bleibt im babylonischen Reich (und später im persischen, im griechischen, im ptolemäischen und im römischen Reich) als eigenständige Gruppe erhalten, die sich vor allem durch ihre Religion unterscheidet. Der Name dieser „neuen“ Religion wird von dem Namen ihres letzten Staates abgeleitet. Aus Juda werden die Juden.
Als Provinz mit eigenem Namen bleibt Juda bis 70 n. Chr. erhalten. Dann sind die Römer die ständigen Aufstände in dieser besonders unruhigen Provinz leid. Sie zerstören Jerusalem fast völlig, verändern die Provinzgrenzen so, dass die alte Provinz nicht mehr erkennbar ist, erfinden den Namen „Palästina“ für die neu entstandene Provinz und verbieten allen Juden den Aufenthalt in dieser Provinz.
Damit ist nicht nur der Grundstein für die bis heute andauernde Zerstreuung der Juden über die ganze Welt gelegt. Gleichzeitig fördern die Römer, ungewollt, auch noch die Ausbreitung des Christentums. Für die Römer sind die Christen zu diesem Zeitpunkt nämlich noch nicht mehr als eine Splittergruppe des Judentums - für die das Aufenthaltsverbot natürlich auch galt.
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