Artikel
Info
Zeit: Mai 2008
Interview: E-Mail
Stil: Prog
Internet:
http://www.everon.de
In der vergangenen Ausgabe wurde das aktuelle Album der deutschen Prog-Institution Everon hoch gelobt und dabei verwundert gefragt, wie eine Band gleichzeitig eine derart kraftvolle, in sich ruhende Musik und recht pessimistische Texte produzieren kann.
Norbert von Fransecky hat sein Erstaunen an Bandkopf Oliver Philipps weiter gereicht und erfahren, dass der das ganz anders sieht und mit dem Etikett „anspruchsvoll“ eher nichts anfangen will.
MAS: North ist kein Konzeptalbum, aber ein Thema scheint sich durchzuziehen - die schwindenden Möglichkeiten eines Menschen im gesetzten Alter. Man erlebt die Perspektive eines Mannes, der zwischen Resignation und Selbstmitleid über das Leben sinniert, das sich ihm als eine immer enger werdende Angelegenheit dazustellen scheint. Die hellen Stellen und offenen Türen liegen für ihn in der Vergangenheit und wenn er versucht sie zurückzuholen, zerplatzen sie wie Seifenblasen, so hört man es im Titelstück. Dazu passt das Artwork, das sich um ein gestrandetes Segelschiff, das voll Wasser läuft dreht.
Ist das richtig beobachtet und spiegelt das den Eindruck wieder, den Du vom Leben hast, oder ist das eher eine literarische Perspektive?
Oliver Philipps: Es ist sicher vor allem eine literarische Perspektive, aber gibt natürlich auch Gedanken wieder, die sich vermutlich jeder auf die eine oder andere Weise macht, wenn man älter wird. Das hat nicht mal unbedingt etwas mit Pessimismus zu tun, aber natürlich erlebt man nicht nur schöne Dinge im Leben, und man erlebt auch vieles, das schmerzhaft ist und manchmal auch Spuren hinterlässt, die man den Rest seines Lebens mit sich trägt. Und viele Türen, die einem vielleicht mit 20 offen standen, stehen einem zehn oder fünfzehn Jahre später nicht mehr offen, vieles im Leben hat einfach seine Zeit, und wenn man älter wird, wird man sich dessen bewusster.
Dennoch zeichnest Du das Bild negativer, als ich es angemessen finde. Man sollte Text und Musik nicht losgelöst voneinander betrachten. Es gibt sicher viele melancholische Momente, aber praktisch überhaupt keine, die wirklich depressiv oder düster wären. Wir lassen immer irgendwo ein Licht an.
MAS: Einige Titel fallen da raus. „South of London“ ist nicht wesentlich optimistischer, aber es ist sehr deutlich politisch - eine Ohrfeige und eine Warnung an Politiker, die mit dem Feuer spielen und denen der Spiegel vorgehalten wird, damit sie erkennen, nicht sie haben das Feuer, sondern das Feuer hat sie im Griff. Ist das eine allgemeine Abrechnung mit der politischen Kaste, oder hast du konkrete Personen im Blick?
Oliver Philipps: Man muß nicht lange suchen, um potentielle Adressaten auszumachen. Darum geht´s mir aber nicht. Ich hab nicht vor in Texten politische Statements abzugeben. Das ganze Spannungsfeld zwischen westlicher Welt und im besonderen dem Nahen Osten ist auch viel zu komplex, um in einem 4 min Song irgendetwas auch nur halbwegs Sinnvolles dazu äußern zu können. Ich hab bewusst in dem Song die Perspektive des Terroristen gewählt, weil es mir nicht darum geht, zu definieren, wer denn nun den „gerechten“ oder „ungerechten“ Krieg führt. Es geht eher um die Sinnlosigkeit des ganzen Unterfangens, Terrorismus mit dem Mittel eines konventionellen Krieges bekämpfen zu wollen. All das, was mit dem 11. September begonnen und seitdem kein Ende genommen hat, ist zutiefst erschütternd, und irgendwie auch erschreckend rückständig. Man sollte meinen, die Zeit von Glaubenskriegen und territorialen Konflikten sollte weit hinter uns liegen, aber leider ist das Gegenteil der Fall. Speziell die USA bewegen sich in der Zeit eher rückwärts. Inzwischen haben sie ja im Lehrstoff der Schulen vieler Bundesstaaten sogar schon die Evolution abgeschafft. Wär´s nicht zufällig die mit Abstand größte militärische Macht auf dem Planeten, könnte man eigentlich herzlich über sie lachen.
MAS: Neben Politik kommt auch die Religion ins Spiel. Mitleid kommt auf, wenn von einem alten Mann berichtet wird, der nach Gott sucht, aber an seine Existenz nur noch unter der nicht sehr tröstlichen Voraussetzung glauben kann, dass sich Gott wohl immer noch am 7. Tag befindet, an dem er sich von der Arbeit ausruht. Ein tolles Bild. Am Ende kippt der Text und der alte mittlerweile gestorbene Mann wird fast beneidet, weil er nun möglicherweise weiß, dass Gott existiert und einen Trost hat, den der Sprecher sich nur wünschen kann.
Wie autobiographisch ist diese Sehnsucht?
Oliver Philipps: Himmel, Du stellst aber auch Fragen...
Ich finde es immer etwas problematisch, solche detaillierten Fragen zu Texten zu beantworten, denn irgendwie gehen sie immer von dem Standpunkt aus, dass das Schreiben ein sehr rationaler Vorgang wäre, der sich auch entsprechend rational erklären ließe. Das ist ehrlicherweise aber nur selten der Fall. Normalerweise entstehen die Texte mehr oder weniger automatisch, während ich an der Musik arbeite. Man hat plötzlich hier eine Zeile im Kopf, dort eine Zeile im Kopf, und manches bleibt einfach hängen und daraus formt sich am Ende der fertige Text. Ich kann mich an keinen einzigen Fall erinnern, in dem ich jemals eine klare Idee gehabt hätte, worüber ich in einem Text schreiben möchte. Mit dem Komponieren verhält es sich übrigens genauso. Wenn ich anfange, weiß ich selten, wohin die Reise geht. Anatomisch betrachtet liegt das kreative Zentrum des Menschen in der rechten Gehirnhälfte, das ist der intuitive Teil unseres Denkens, während in der linken Gehirnhälfte unser analytischer Verstand ist. Wenn Du mir also solche Fragen stellst, dann stellst Du sie unglücklicherweise immer genau der Hälfte meines Gehirns, die von der ganzen Sache absolut keine Ahnung hat. Ich tue mich schwer damit, da alles verstandesmäßig zerpflücken zu müssen. Das ist zwar irgendwie prog-typisch, aber ich bin da ein eher schlichtes Gemüt. Ich schreib einfach, was mir einfällt und was sich „richtig“ anfühlt. Es ist eigentlich kein rationaler Prozess.
Entsprechend schwer tue ich mich auch mit dem Einstieg zu Deiner nächsten Frage, die ich hier schon auf dem Bildschirm sehe, während ich diese beantworte. Das Wort „anspruchsvoll“ liegt mir da direkt quer im Hals. Ich bin sicher, es ist durchaus als Kompliment gemeint, aber ich finde Begriffe wie „anspruchsvoll“ im Zusammenhang mit Musik oder Texten völlig unpassend. Vor allem finde ich auch nicht, dass es ein Qualitätsmerkmal darstellt. Musik und alles, was damit zusammenhängt, ist in erster Linie Gefühl, und nicht dazu da, irgendwen zu belehren oder sonst wie zu einem schlaueren Menschen zu machen. Sie sollte anrühren, bewegen, irgendwas innen drin auslösen, den Teil von uns ansprechen, der uns eine Auszeit vom normalerweise sehr rationalen Alltag gibt, den wir alle haben.
Darum halt ich „anspruchsvoll“ nicht mal für erstrebenswert, weil es den Beigeschmack hat, dass der, der´s versteht, dann besonders schlau sein muß; noch schlimmer wird´s, wenn es in der Progszene als Qualitätsmerkmal gesehen wird, wenn ein Song „kompliziert“ ist. Solche Begriffe haben für mich in der Musik absolut nichts zu suchen. Wenn ein Lied nicht schön ist, oder mich nicht innerlich auf andere Weise emotional berührt, dann ist es mir wurschtegal, ob es kompliziert oder anspruchsvoll ist, davon wird´s doch nicht besser. Musik, und auch Texte, sollten zuallererst mal das Herz des Hörers erreichen, das ist für mich das einzige relevante Qualitätsmerkmal eines Songs.
MAS: Hoffnung kommt für mich im Rahmen der durchweg sehr anspruchsvollen Texte vor allem an zwei Stellen auf. Im ersten Stück, das die Türen der Handlungsmöglichkeiten, die auf dem Album über weite Strecken verschlossen zu sein scheinen, öffnet, indem deutlich gesagt wird, es steht dem Menschen frei zum Guten und zum Schlechten zu handeln. Ist das zum Einstieg eine bewusste Relativierung der pessimistischen Grundtendenz des Albums?
Oliver Philipps: Wie Du aus der vorangegangen Antwort schließen kannst, ist es das natürlich nicht. Nahezu nichts ist da in irgendeiner Art wirklich bewusst, aber unterschiedliche Songs haben natürlich ganz unterschiedliche Grundstimmungen, und die schlagen sich dann auch in den Texten nieder. „Hands“ ist als Song eine eher rockige, treibende Nummer und in der musikalischen Grundstimmung einfach eher positiv, und da kann ich mich natürlich textlich auch nicht ins Schwert stürzen.
MAS: Das Instrumental „Woodworks“ ist das lebendigste und für mich optimistischste Stück des Albums. Ich fühle mich sehr an den frühen Billy Joel (Piano Man, Entertainer) erinnert. Eine absichtliche Bezugnahme?
Oliver Philipps: Nicht unbedingt vorsätzlich, aber sicher durchaus zutreffend. Wenn man Rockmusik macht und Klavier spielt, kommt man an Billy Joel nicht vorbei. Ich bin ein großer Bewunderer seiner frühen Alben, und hatte mir ja auch auf `Bridge´ sogar mal ein paar Takte ausgeliehen (und das ausdrücklich im Booklet vermerkt). Da hat sich sicher einiges von ihm in meine Spielweise eingeschlichen, das will ich nicht bestreiten.
MAS: Auch wenn „Woodworks“ herausragt, empfinde ich die Musik insgesamt als wesentlich lebensfroher, positiver und vor allem kraftvoller, als es bei den Texten zu erwarten wäre.
Siehst Du diese Spannung auch? Wie gehst Du mit ihr um?
Oliver Philipps: Wie gesagt, man sollte Musik und Texte als Einheit sehen. Beides zusammen erzeugt erst die jeweilige Stimmung. So gesehen definiert die Musik oft erst einen Text, darum teile ich halt auch nicht Deine Meinung, das es so düster oder negativ wäre. Ich empfinde das nicht so. Grundsätzlich sollte Musik eher dazu da sein, um das Leben zu verschönern. Es liegt nicht in meiner Absicht, unsere Hörer zu deprimieren.
MAS: Ihr seid ein recht stabiler Faktor in der Progszene, hoch gelobt, aber nie so ganz nach oben geschwemmt worden. Wie würdest Du selber Euren Status beschreiben?
Diskografie
1995 Flood
1998 Venus
2000 Fantasma
2002 Bridge
2002 Flesh
2008 North
Ich bin eigentlich ganz zufrieden damit, wie es ist, keiner von uns hat die Ambition, mit Everon zu Ruhm und Reichtum zu gelangen, und insgesamt haben wir uns auf einem sehr ordentlichen Level etabliert. Wenn man wirklich mehr erreichen wollte, müsste man ehrlicherweise auch einen größeren Aufwand betreiben, als wir es tun. Auf dem Live-Sektor waren wir immer eher zurückhaltend, was sowohl private als auch berufliche Gründe hat. Definitiv haben wir nicht alles getan, was man tun müsste, wenn man den Anspruch hat, den wirklich großen Durchbruch zu schaffen. Also werde ich mich jetzt nicht beschweren, dass der nie eingetreten ist.
MAS: Sechs Jahre Pause seit dem letzten Album - warum?
Oliver Philipps: Moschus (Christian Moos, Drummer und Produzent; NvF) und ich waren einfach in zu viele andere Produktionen eingebunden, so dass immer wieder die Studiozeit, die wir für Everon eingeplant hatten, am Ende für andere Produktionen draufging. Das war so nicht geplant.
Dazu kam, dass ich eine ganze Weile aus Krankheitsgründen ausgefallen bin. Das ist insgesamt alles nicht ganz so gelaufen, wie´s geplant war. Im Prinzip hätte die Platte schon mindestens zwei Jahre draußen sein können. Das ist etwas schade, aber es läuft halt nicht immer alles so, wie man´s sich gewünscht hat.
MAS: Gibt es aktuelle Sachen, die Euch musikalisch beeinflusst haben?
Oliver Philipps: Ich denke, jede Musik, mit der man sich beschäftigt, beeinflusst einen in irgendeiner Weise. Dadurch, dass Moschus und ich seit über 10 Jahren unser Geld als Produzenten verdienen, befassen wir uns natürlich permanent mit den unterschiedlichsten Arten von Musik, und ganz sicher verändert das auch den eigenen musikalischen Horizont und wirkt sich so auch auf die eigenen Platten aus. Auch das passiert nicht bewusst, aber wenn man mal einen Blick zurückwirft und in die frühen Platten reinhört, merkt man schon, dass sich über die Jahre doch eine Menge verändert hat.
MAS: Was hat sich musikalisch aus Deiner Sicht seit Flesh bei euch verändert?
Oliver Philipps: Schwer zu sagen, ich höre unsere eigenen Platten ehrlicherweise nie, drum können unsere Hörer das vermutlich besser beantworten als ich.
Das Songwriting läuft immer gleich. Ich spiel einfach, was mir einfällt, und fertig ist´s. Im besten Fall schreibt ein Song sich quasi selbst. Ich nehme Ideen wirklich so, wie sie kommen. Schnelle Songs oder langsame, lange, kurze, komplexe oder simple, für mich macht das eigentlich keinen Unterschied. Man spürt sofort, wenn man eine Idee hat, die funktioniert, und dann folge ich meiner Intuition. Ich analysiere da nicht groß und versuche auch nicht, einen Song in eine bestimmt Richtung zu drücken. Und wenn die zündende Idee nicht da ist, kann man wochenlang mit Gewalt an Songs rumschrauben, und es kommt dennoch nichts Vernünftiges dabei raus. Nach meiner persönlichen Erfahurng man kann das nicht zwingen. Jedes Album entsteht zu einer anderen Zeit, und wie man sich selbst verändert, verändert sich eben auch die Musik.
Die deutlichsten Veränderungen sind für mich eher „technischer“ Natur, was einfach aus den Erfahrungen resultiert, die wir in den Jahren als Produzenten gemacht haben. Die Arrangements sind klarer und besser, speziell was die Orchestrierungen angeht. Bei `Flesh´ war ich damit eher im Versuchsstadium und hab dabei auch Lehrgeld bezahlt. Der Titelsong war praktisch unmöglich zu mixen. Die Hälfte von dem, was im Arrangement der Nummer passiert, hat außer Moschus und mir nie ein Mensch gehört, weil´s ganz einfach völlig unmöglich war, diese Dinge im Mix gegen Drums und Gitarren nach vorn zu bringen. Da hab ich wirklich ein paar echte Eigentore geschossen. Da war einiges gut gewollt, aber schlecht gekonnt.
Man braucht eine Weile, um eine Gespür dafür zu entwickeln, was bei Orchestrierungen in Verbindung mit harten Gitarren funktioniert und was nicht. So was lernt man eigentlich nur dadurch, dass man es macht und dabei halt auch Lehrgeld bezahlt. Durch den Erfolg von Bands wie z.B. Nightwish oder Within Temptation sind Orchestrierungen ein Stilmittel geworden, dass sich im Metal/Rock etabliert hat, und so hab ich in den letzten Jahren viel Gelegenheit zum Üben bekommen.
Heutzutage ist das ein absoluter Schwerpunkt meiner Arbeit geworden. Ich arbeite deutlich weniger im Studio als in den 10 Jahren davor, mache aber mehr Orchestrierungen für Bands, außerdem auch Filmmusik und ähnliches. Das Studio macht Moschus heute zum größten Teil allein, aber natürlich kommt es immer wieder vor, dass wir an einer Produktion gemeinsam arbeiten. Insgesamt hat sich auf dem Gebiet auch sehr viel verändert. Die Art von Produktion, bei der man sich gemeinsam mit einer Band für 4-8 Wochen im Studio einschließt und am Ende dann eine fertige Platte herauskommt, gibt es ja kaum noch. Die digitale Technik hat die Musikproduktion da wirklich revolutioniert, weil man völlig problemlos an 5 verschiedenen Orten an derselben Sache arbeiten und jederzeit die Projektdaten miteinander austauschen kann. Anfang des Jahres hab ich z.B. die Orchestrierungen für das kommenden Album der Österreicher Serenity gemacht. Der Rest wurde zum Teil in einem anderen Studio in Deutschland (Dreamscape Studios) aufgenommen, zum Teil in Österreich, und gemischt wird das ganze gerade von Jacob Hansen in Dänemark. Diese Art zu arbeiten wird mehr und mehr zum Normalfall. Auf der einen Seite ist das manchmal schade, weil viel von der „Magie“, die so eine Albumproduktion manchmal entwickelt hat, dadurch auf der Strecke bleibt, aber es hat auch Vorteile, weil man sich halt für jeden Arbeitsschritt jemanden suchen kann, der genau darauf spezialisiert ist. Das eine Studio macht vielleicht einen Mörder-Gitarrensound, wieder in einem anderen Studio ist jemand, der einen sensationell guten Drumsound macht, und irgendwo ist vielleicht einer, der richtig gut bei Orchestrierungen oder Vocals ist, und am Ende gibt man es in ein Studio, dass speziell für Mixing optimiert ist. Diese Arbeitsweise ist manchmal gewöhnungsbedürftig, kann aber sehr gute Resultate hervorbringen.
MAS: Ganz herzlichen Dank für die sehr ausführlichen Antworten. Ich hoffe. Sie machen dem einen oder anderen Lust, sich mit Euren Alben näher zu beschäftigen.
Einen Wunsch wollen wir Oliver Philipps dann zum Abschluss noch mit auf den Weg geben. Möge er uns nicht noch einmal sechs Jahre auf ein neues Album warten lassen.
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