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Zeit: 09.02.2008
Ort: Alfred-Krupp Saal der Essener Philharmonie
Besucher: praktisch ausverkauft
Veranstalter: Philharmonie Essen
Fotograf: Copyright Eric Larrayadieu
Internet:
Les Talens Lyrique
Philharmonie Essen
Das Wagnis, Jean-Philippe Rameaus Tragedie Castor et Pollux mit einem spezialisierten französischen Ensemble im Alfred-Krupp-Saal der Essener Philharmonie aufzuführen, darf als geglückt bezeichnet werden: Schon die Einführung eine Stunde vor dem Konzert lockte so viel Publikum an, dass die dafür vorgesehene Lounge in der 2. Etage der Philharmonie nicht ausreichte.
Auch die Aufführung selbst war praktisch ausverkauft. Und das, obwohl die Ankündigung „Konzertante Aufführung mit den Höhepunkten der Oper“ eine gekürzte Version erwarten ließ. Eingespart hatte man, die Besetzungsliste ließ es bereits befürchten, den Chor. Ausgerechnet! Dass dieser bei französischen Barockopern und insbesondere bei Rameau aufregende musikalische und dramaturgische Höhepunkte beisteuert, davon bei der Einführung kein Wort.
So musste das Publikum unter anderem auf den großartigen, auf Berlioz vorausweisenden Trauermarsch Que tout gémisse zu Beginn des 2. Aktes verzichten. Oder den in seiner erregenden, hämmernden Deklamation eines Stravinsky würdige Dämonenchor Brisons tous nos fers im 4. Akt, ganz zu schweigen von den packenden Ensembles, die der Komponist immer wieder aus Solisten und Chor gefügt hat.
Rameau hatte zwar 1754 dessen Anteil anlässlich der Neufassung seines 1737 uraufgeführten Opus zugunsten der dramaturgischen Bündigkeit zurückgenommen. Aber, wie Dirigent Christophe Rousset durchblicken ließ, es war schon vor 300 Jahren nur in einem zentralistisch regierten Land wie Frankreich möglich, die Mittel für eine solche Opernaufführung bereitzustellen. Und so dürften es auch dieses Mal im wesentlichen die Kosten gewesen sein, die hinter der „künstlerischen“ Entscheidung standen, die tragisch-elegische Geschichte des Werkes auf seinen rezitativischen Kern, aufgelockert durch die wenigen, wenngleich eindrücklichen Arien und die (schönsten) Tänze, zu „verdichten“.
Dass dieser Kompromiss nicht zur Sackgasse geriet, verdankt sich der exemplarischen Aufführung durch die vier vorzüglichen Solisten und das wirklich sehr gut disponierte Orchester Les Talens Lyrique.
Überdies traten die Musiker den Beweis an, dass Rameaus häufig orchesterbegleitete, arios (und nicht italienisch-trocken) formulierte Rezitative wohl die Besten sind, die überhaupt für die barocke Opernbühne komponiert wurden. Das Essener Publikum lauschte den vokal und emotional aufregenden Darbietungen der Protagonisten jedenfalls gebannt. Was gab es da nicht alles zu entdecken: eine delikate, die Sprachmelodie überhöhende Artikulation und Phrasierung, effektvoll ausgekostete Pausen, spannungsvoll angesteuerte Spitzentöne und aufwühlende Dissonanzen. Besonderes Lob gilt in diesem Zusammenhang auch den Continuo-Spielern Emmanuel Jacques (Violoncello) und Stéphane Fuget (Cembalo). Sänger/innen und Spieler vertrauten einander blind. Herausragend Anna-Maria Panzarellas leidenschaftliche, bis in die Gestaltung kleinster Phrasen hinein ungemein facettenreiche Télaïre. Sie bot bei der berühmten Klage Tristes apprêts, pâles flambeaux nicht nur elegische Trauer, sondern vokal angeschärftes Seelendrama. In Judith van Wanroijs Phébé besaß sie eine nicht minder charismatische Nebenbuhlerin. Van Wanroij bedachte überdies in den Nebenrollen als himmlische Hébé oder seliger Schatten diese eher emblematischen Figuren mit bemerkenswerten vokalen Verführungskünsten. Henk Nevens Pollux gebot abgesehen von ein paar zu leisen tiefen Tönen über baritonale Kraft und entsprechenden Ausdruck. Der hohe Tenor von Finnur Bjarnason agierte wohl auch plotbedingt in den ersten Akten vokal etwas im Hintergrund, konnte seine Möglichkeiten gegen Ende allerdings adäquat ausspielen.
Die orchestrale Seite geriet Rousset lebendig und pointiert, verströmte durchweg Eleganz und seidigen Schimmer (was etwas auf Kosten der Härten und Dissonanzen in Rameaus Musik ging). Die Besetzung war angemessen, für den riesigen Saal vielleicht in den hinteren Rängen etwas zu zart. Verglichen mit der zur Zeit einzigen neueren Einspielung der 1754er Version von Rameaus Oper (Kevin Mallon, Naxos), die das Werk zwar vollständig darbietet, aber mit breiten Tempi in den Rezitativen und selbst in den Tänzen oft zu spannungsarm zelebriert, überzeugte die gekürzte Version durchaus. Rameaus Genie freilich wurde dabei nur zur Hälfte hörbar. Langanhaltender, begeisterter Schlussapplaus.
Bleibt trotz des Erfolgs zu hoffen, dass dieser amputierte Rameau das erste und letzte derartige Experiment gewesen ist. Rousset bezeichnet ihn mit Recht als das französische Gegenstück zu Johann Sebastian Bach. Man behandle ihn also auch bei uns mit der entsprechenden Wertschätzung.
Von den Qualitäten des Chorkomponisten kann man sich übrigens bei einem weiteren Konzert u. a. mit einer Grand Motet Rameaus am Freitag, den 6. Juni 2008 um 20:00 Uhr überzeugen, ein weiteres Rameau-Arienkonzert mit der Sängerin Veronique Gens steht schon am Sonntag, den 18. Mai um 18:00 Uhr auf dem Programm. Die Leitung hat in beiden Fällen wiederum Christophe Rousset, der diese Spielzeit in Essen „Artist in Residence“ ist.
Georg Henkel
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