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DAS LEBEN: SCHILLERND WIE EIN ROMAN
1948 als Kind unbekannter Eltern geboren, wächst der kanadische Komponist Claude Vivier zunächst in einem katholischen Waisenhaus auf, bis er im Alter von zwei Jahren von einem Ehepaar adoptiert wird. Mit 16 Jahren geht er in ein Priesterseminar, wo man ihn aber zwei Jahre später wegen „unreifen Betragens“ entlässt. Während einer Mitternachtsmette entdeckt er dort die Musik und seine Berufung zum Komponisten. Er studiert zunächst in Montreal bei Gilles Tremblay, später geht er nach Europa und wird Schüler von Karlheinz Stockhausen, der diesen hingebungsvollen, aber auch seltsam unangepassten Studenten auf Distanz hält und sein Talent offenbar nicht wirklich erkennt.
Erst durch eine Asienreise Ende der 70er Jahre findet Vivier zu seiner ganz persönlichen Sprache; in kurzer Zeit entsteht eine Reihe von Werken. Seine Bekanntheit wächst, ohne dass es zum großen Durchbruch kommt. Ein Stipendium ermöglicht Vivier 1982 den Umzug nach Paris. 1983 wird er dort von einem Strichjungen in seiner Wohnung ermordet. Auf seinem Schreibtisch liegt die Partitur zu seinem letzten (unvollendeten?) Werk Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele.
Lange Zeit ein Geheimtipp, wuchs der Ruhm Viviers in den letzten Jahren kontinuierlich. György Ligeti machte sich für sein Werk stark. Inzwischen gilt Vivier als bedeutendster kanadischer Komponist seiner Generation. Sein Werk ist zutiefst biographisch geprägt: eine Auseinandersetzung nicht nur mit unterschiedlichen musikalischen Traditionen von der Gregorianik über die Elektronik bis hin zu außereuropäischer Musik, sondern auch mit seiner unbekannten Herkunft, mit der Religion, der Sehnsucht nach Liebe und Schönheit, mit seiner exzessiv ausgelebten Homosexualität, mit (bewusst provozierter) Gewalt und mit seiner lebenslangen Besessenheit vom Tod.
Nach wie vor sind Aufnahmen mit Viviers Musik nur schwer erhältlich. Eine Philips-Aufnahme von 1996 ist vergriffen. Einige CDs mit dem Spätwerk (z.T. in Kombination mit Stücken von anderen kanadischen Komponisten) lassen sich online beim Candian Music Center bestellen. 2006 hat das auf Neue Musik spezialisierte Label Kairos eine Platte mit Viviers beiden Orchesterwerken Siddharta und Orion sowie einem Zyklus von Liedern für Schlagzeug veröffentlicht. Eine Möglichkeit, in diese in allen Regenbogenfarben leuchtende, fantastisch sich windende Orchestermusik reinzuhören, bietet der Podcast der Rundfunktsendung Hörbar Abstrakt.
Zum umfassenden Kennenlernen sei jedoch das luxuriöse musikalische und biographische DVD-Porträt Rêves d’un Marco Polo von Opus Arte empfohlen. Das Asko Ensemble und das Schönberg Ensemble (Leitung: Reinbert de Leeuw) präsentieren hier zusammen mit dem Regisseur Pierre Audi Viviers einzige vollendete Oper Kopernikus und ein nach Vorgaben Viviers posthum aus einzelnen Werken arrangiertes Musiktheater mit dem Titel Marco Polo in vollendeten Aufführungen.
Neben hilfreichen Werkeinführungen findet sich noch eine einstündige Viver-Dokumentation von Cherry Duyns, bei denen u. a. Vertraute des Komponisten und der Dirigent Reinbert de Leeuw ausführlich zu Wort kommen.
DIE MUSIK: JANUSGESICHTIG
Viviers Musik ist janusgesichtig: Auf der einen Seite ist sie ausgesprochen melodiebetont und durch eine nicht-tonale, eigentümlich schwebende Harmonik jenseits des westlichen 12-Ton-Systems gekennzeichnet. Dadurch klingt sie schön und ausdrucksvoll, ohne banal zu wirken. Die modalen Melodien wirken zusammen mit den eigentümlichen, aus Obertönen abgeleiteten "Mixturklängen" wie eine ins Asiatische übersetzte Gregorianik, hier schlägt Viviers katholischer Hintergrund durch. Auch bei großen Besetzung ist der Eindruck eher choralartig oder heterophon. Vivier umspielt die Hauptmelodie, er färbt sie durch ein manchmal sehr dichtes Geflecht von Begleitstimmen und raffinierte Instrumentalkombinationen, die ihrerseits wie ein fantastisches orientalisches Super-Instrument anmuten.
Lonely Child, eine Art Orchesterlied für Sopran, Schlagzeug und Streicher, ist dafür ein gutes Beispiel. Das Stück bewegt sich zwischen Olivier Messiaen, liturgischem Gesang und Pekingoper. Vivier hüllt die zarte und zerbrechliche, über lange Abschnitte in unendlicher Ruhe voranschreitende Melodie in ein changierendes harmonisches Gewand. Die Wirkung ist je nachdem himmlisch und rein oder süß und kitschig - das liegt bei diesem Komponisten nahe beieinander. Trotz aller Schlichtheit wirkt die Musik opulent und sinnlich. Den phantastisch-schwülen Effekt Gesangsparts verstärkt Vivier hier und in anderen Stücken durch eine plappernde Kunstsprache und Stimmverfremdungen wie Pfeifen, Summen, Heulen. Auch in Pappröhren Hineinsingen oder das an kindliche Indianerspiele erinnernde Schlagen der Hand vor den Mund gehören dazu.
Auf der anderen Seite birgt Viviers Musik aber auch einen starken depressiven, geradezu destruktiven Zug. Sie ist voller Brüche, Blockaden, kennt brutale Klangentladungen, die jedwede Musik auszulöschen drohen. Dann steigert sich der zunächst schwelgerische Ausdruck ins Monumentale, Pathetische. Die ineinander geschobenen schroffen Klangblöcke in dem Streicherstück Zipangu, die manisch hämmernden Klavierakkorde in Shiraz oder die von heftigen Trommel- und Gongschlägen unterbrochenen brüllenden Streichercluster zu Beginn von Wo bist du Licht? wären hier zu nennen; auch Lonely Child kennt solche Momente der Bedrohung.
DIE WERKE: MYSTERIENSPIELE
Kopernikus und Marco Polo besitzen keine Handlung im herkömmlichen Sinne. Vielmehr handelt es sich um Traumwelten aus Gesang und Instrumentalmusik. Musik wie Inszenierung haben einen deutlichen rituellen Einschlag. Elemente des mittelalterlichen Mysterienspiels oder des barocken Welttheaters sind auf originelle Weise mit asiatischen Kult- und Theaterformen zu etwas Neuem und Eigenen verschmolzen. Als rätselhaftes Initiationsgeschehen vermitteln diese Meta-Liturgien den Übergang zwischen Dies- und Jenseits, zwischen der äußeren und inneren, der leiblichen und der geistigen Welt des Menschen.
Kopernikus ist ausdrücklich mit „Rituel de Mort“ untertitelt und zielt auf eine intensive kathartische Erfahrung ab. In einer kunstvoll manirierten Verbindung von Meditation und Clownerie, von Kinderspiel, Inbrunst, Schönheit und Groteske schickt Vivier die Zuhörenden durch ein Fegefeuer der Empfindungen und Erfahrungen. Eine Art „naiver“ Schamanismus scheint hier am Werk.
Ort der Handlung ist eine Art spiritistischer Spielplatz kurz vor dem Eintritt in den Himmel. Vivier hat mit diesem Werk sein eigenes Reich der seligen und panischen Geister geschaffen. Hier begegnet die indische Gottheit Agni mythologischen und historischen Gestalten wie Kopernikus, Alice, Lewis Carroll, Merlin, der Königin der Nacht, Mozart oder Tristan und Isolde. Singend, musizierend, spielend und tanzend erschaffen diese kindhaften, aber keinesfalls unschuldig-niedlichen Gestalten ihr eigenes abgründiges und poetisches Reich der Klänge, in der nichts von Dauer ist, sondern sich im steten Übergang befindet. Es ist ein sinnliches, vitales Reich, aber auch ein Reich des hundertfachen Todes und Schreckens, der Verwandlung und Neuschöpfung aus dem Moment heraus.
Während Kopernikus durchkomponiert ist und mit seinen vielstimmigen, blühenden Vokalsätzen und der sparsamen Instrumentierung entfernt an eine Folge von Madrigalen erinnert, kombiniert Marco Polo mehrere sehr heterogen besetzte Stücke Viviers zu einem neuen Werk. Hier betritt man sozusagen mit jedem Stück einen gänzlich neuen (Klang)Raum, der Spiegel oder Gleichnis für die inneren Räume des Menschen sein will. In dieser betont subjektiven Musik prallen ästhetische und emotionale Extreme aufeinander. Beim Hörer äußert sich das in spontaner Erregung, Begeisterung, Langeweile oder auch Abscheu. Gelassene Distanz jedenfalls ist unmöglich.
Pierre Audi und die fabelhaften Musiker/innen und Sänger/innen finden mit einer Art stilisierten Comoedia-del’Arte-Inszenierung zwischen Kinderspielplatz und Tempel eine Bildsprache, die der Magie, Dramatik und Verspieltheit beider Werke genügend Raum für eine in jeder Aktion und Geste stimmige Entfaltung bietet. Kaum vorstellbar, dass diese Musik besser aufgeführt werden kann.
AUTHENTISCH - UND GESCHMACKSSACHE
In den besten Momenten gelingt Vivier eine mühelose Überwindung abgenutzter neutönerischer Klangklischees. An ihre Stelle tritt eine authentische, bekenntnishafte musikalische Fantasie, die sich auch handwerklich souverän über Geschmacksgrenzen hinwegsetzt und auf ihre ureigenste Ausdruckskraft vertraut. Das schließt süßen Kitsch und plakative Gesten mit ein, die in ihrer Unmittelbarkeit zwar berühren können, in ihrer geschmäcklerischen Art aber dennoch nicht jedermanns Sache sein dürften.
Die Dokumentation zeigt, dass Kunst und Leben bei Vivier nicht zu trennen sind. In den Kommentaren von Viviers Vertrauter erscheint der Künstler als ein gefallener Engel, der musikalisch den Weg ins Licht gefunden hat, dem Sog in die Dunkelheit aber letztlich nicht widerstehen konnte. Echt sind Hingabe und Begeisterung der Interpreten, allen voran von Reinbert de Leeuw, der sich von Vivers Musik tief ergriffen zeigt.
Offenbar stimuliert Vivier bei Hörern wie Ausführenden einen lange betäubten Anklangsnerv: Durch die häufige Kargheit, klangliche Entropie und emotionale Unverbindlichkeit der Neuen Musik wenig verwöhnt, erscheint Viviers kunstvoll manirierte, unbefangen sinnliche, noch in den klanglichen Extremen schwärmerische Musik wie eine Oase in der Wüste. Das nachwagnerische Pathos mag Hörer anziehen und abstoßen, auf jeden Fall ist es herausfordernd. Viviers Sprache klingt seltsam - tröstlich - vertraut und ist gleichzeitig so neuartig, dass der Verdacht eines heimeligen und darum verdächtigen Retrostils nicht aufkommt.
Man darf gespannt sein, ob und wie Vivier den manchmal (nicht nur) hierzulande in ungefährlichen, da unverbindlichen und darum auch langweiligen Klangbasteleien befangenen Komponierbetrieb durch seine sehr persönliche Sprache bereichert.
Georg Henkel
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