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Zeit: 14.01.2007
Ort: Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen
Hector Berlioz hat zu Lebzeiten sein Opus magnum für die Opernbühne niemals vollständig gesehen und gehört: Les Trojens. Offenbar war der exzentrische Komponist bei seinem Versuch, der epischen Vorlage Vergils gerecht zu werden, über das Ziel des Machbaren und Erträglichen hinausgeschossen. Die über 6600 Takte sprengten den Rahmen dessen, was als abendfüllendes Werk vom Publikum noch zu goutieren war. Zu groß erschien den Verantwortlichen überdies der technische Aufwand für eine angemessene Inszenierung, zu hoch die Anforderungen an Sänger/innen und Instrumentalisten. Jedes der beiden Teile, aus denen das Werk sich zusammensetzt, mochte anderswo bereits als vollständige Oper durchgehen.
So nötigte man Berlioz bei der einzigen Aufführung zu Lebzeiten im Jahr 1863, den ersten Teil, der die Eroberung Trojas behandelt, ganz zu streichen, und auch den zweiten, der die tragische Liebesgeschichte zwischen dem trojanischen Anführer Äneas und der karthargischen Königin Dido behandelt, zu kürzen.
Den Ruf, ein unspielbarer, megalomaner Brocken zu sein, verlor Les Trojens erst im 20. Jahrhundert nach und nach. Dass sich auch kleinere Häuser im Rahmen des normalen Repertoirebetriebs an diese Epos in toto wagen, zeigt allerdings, dass die Anforderungen des Werks inzwischen keine unlösbaren inszenatorischen, sängerischen oder instrumentalen Probleme mehr aufwerfen. Das Musiktheater im Revier, die Gelsenkirchener Oper, präsentierte am 14. Januar 2007 in Kooperatioin mit der Strassburger Oper eine weitgehend vollständige Version des Werkes, wobei die beiden Hauptteile nur bei der Premiere in einer Nachmittags- und einer Abendvorstellung hintereinander als ein Werk gegeben wurden. Weitere Vorstellungen bringen die beiden Teile dann jeweils im Wechsel - hier setzt sich also die Tendenz zur „Doppel-Oper“ fort.
Die internationale Sängerbesetzung überzeugte am Premierenabend mehr oder weniger. Der erste Teil der Oper gehört vor allem der unglücklichen Seherin Cassandra. Die zwischen Empfindsamkeit und aufrührerischer Dramatik angesiedelte Partie erfuhr durch Anna Agathonoss warme, eher lyrisch disponierte Mezzostimme eine zwar engagierte, aber nicht unbedingt packende Darstellung. Die pathetischen Gebärden, mit der die Regie die Sängerin agieren ließ, waren ebenfalls wenig geeignet, das Bild einer von ihren peinigenden Visionen getriebenen Frau überzeugend zu zeichnen. Im enttäuschend blassen und statischen Chorèbe von Jee-Hyun Kim hatte Agathonoss zudem keinen adäquaten Partner.
Christopher Lincoln als Enée gebot dagegen über eine durchsetzungsfähige, metallische und homogene Tenorstimme, die in der geforderten Höhe nur gelegentlich etwas eng klang. Er harmonierte sehr schön mit der dramatischen und bewegenden Dido von Anke Sieloff, die insgesamt die die beste sängerische und darstellerische Leistung bot: eine kraftvolle, in allen Lagen ausgewogene und ausdrucksstarke Stimme, der man lediglich zum Schluss eine leichte Erschöpfung anmerkte. Emotional bewegend auch Katarzyna Kuncio als Didos Schwester Anna: ein leuchtender, fein timbrierter Sopran, darstellerisch war die Sängerin ebenfalls sehr überzeugend. Große Spielfreude verbreitete Eric Laporte als Iopas, ein Sänger in der Tradition des französischen Haute-Contre mit sehr hoher, geschmeidig und edel geführter Tenorstimme.
Der Orchesterpart des Werkes hat Größe, Ausdruck und Gewicht - aber er ist beileibe nicht überzüchtet, da Berlioz häufig geradezu kammermusikalisch disponiert und die Szenen klangfarblich delikat und sensibel ausleuchtet. Das Gelsenkirchener Orchester benötigte einen gewissen Anlauf, um diesem Ideal zu entsprechen. Unter der Leitung von Samuel Bächli gelang ein insgesamt sehr transparenter, anfangs fast schon zu „schlaksiger“ Klang, der jedoch im 2. Teil des Abends an Wärme, Körper und Farbigkeit gewann.
Durchweg problematisch dagegen die Inszenierung, auch da, wo sie vordergründig gelang und unterhielt: Regisseur Andreas Baesler und Bühnenbildner Hermann Feuchter schwankten unentschlossen zwischen historisierender Annäherung und parodistischen Elementen. Siedelte das Team den 1. Teil irgendwo in einem hellenistischen Verdun mit einem an die Augsburger Puppenkiste erinnernden Panzer-Pferd an, so wechselte man im 2. Teil in ein Karthago, das an ein Wüsten-Monaco erinnerte. Didos vorbildliches Gemeinwesen, von Berlioz zu einem antiken Utopia umgedeutet, verkam zu einem Operetten-Staat, der einer Offenbachproduktion besser angestanden hätte. Zahlreich war die untote Prominenz an diesem Abend vertreten: Nicht nur Hektor verließ in einer unfreiwillig (?) komischen Stummfilm-Gruselszene sein Grab. Auch Elvis (alias Iopas), Bonney M. (die nubischen Sklavinnen in einer der fast gänzlich zusammengestrichenen Balletteinlagen) und Grace Kelly (alias Dido) traten auf, ohne dass diese Anspielungen irgendeine Bedeutung gehabt hätten. Versatzstücke des Historien- und des Regietheaters lösten einander ab; ein einheitliches Konzept wollte sich daraus nicht ergeben. Gags wie die Orgie zur grandiosen Jagdmusik belebten zwar die Inszenierung, konterkarierten aber Berlioz’ Drama, das für solche Manipulationen wenig Ansatzpunkte bietet. Dafür ist die Musik zu unkitschig, sind das Pathos zu echt, die Gefühle der Personen zu wahrhaftig. Einzig die wunderbar atmosphärische Lichtregie war in der Lage, die Farben und Stimmungen der Musik angemessen umzusetzen.
Interessanterweise gewann das Werk im 5. Akt dramaturgisch an Fahrt und im Schlussbild dann sogar eine unerwartete Stringenz, als sich der Kreis aus Liebe und Gewalt schloss: Jener Prospekt, der zu Beginn das kriegsversehrte Troja abbildete, erschien noch einmal, diesmal als Zukunftsvision Karthagos. Hier einmal nahm die Regie die Monumentalität, die in Berlioz’ Oper steckt, endlich ernst.
Georg Henkel
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