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Es war einmal in einem nicht allzu weit entfernten Paralleluniversum. Ein vom Progrock-Fieber infizierter Zeitforscher entschloss sich zu einem gewagten Zeitexperiment. Er lud reichlich Musikinstrumente und Studiotechnik in sein neustes, für Schwertransporte zugelassenes, Zeitmaschinenmodell und beamte sich ins Jahr 1965. Dort landete er in einer ländlichen Gegend Englands neben einem verlassenen Cottage.
Am folgenden Abend verfluchte der körperliche Arbeit nicht gewohnte Kopfarbeiter seine verrückte Idee. Sämtliche Muskeln schmerzten von der Herkulesarbeit, das komplette Equipment in das Cottage zu schleppen. Von dem großen Mischpult und den mächtigen Backline-Boxen gar nicht zu reden. Die warteten noch in der - für die Menschen des Paralleluniversums natürlich unsichtbar gemachten - Zeitmaschine auf ihren Abtransport.
Unser Wissenschaftler begab sich zur Entspannung in einen Pub in einen Vorort von Liverpool. Dort traf er einen nicht ganz unbekannten Musiker, den er erst einmal betrunken machte. Danach gelang es ihm, dem an seinen relativen Reichtum noch nicht gewöhnten Musiker für eine größere Summe die revolutionäre Idee des „Konzeptalbums“ zu verkaufen. Schließlich brauchte unser Zeitreisender ein wenig Kleingeld für seinen Aufenthalt in der Vergangenheit.
(Zwar verfluchte besagter Musiker am nächsten Morgen seine Sauferei und ihre kostspieligen Folgen. Gerechterweise muss man aber zugeben, dass das Konzeptalbum, das er einige Zeit später mit seiner Band produzierte, mit zu einem so gewaltigen Ruhm beitrug, dass ihn die Queen Jahre später in den Ritterstand erhob.)
Mit seinen Aktivitäten der nächsten Tage stürzte Dr. Prog, um unserem Helden endlich einen Namen zu geben, die besten Spezialisten von Scotland Yard in pure Verzweiflung. Über das ganze Land verteilt verschwinden junge Männer. Die Entführungen spielen sich immer nach demselben Muster ab, aber außer dem ungefähren Alter und dem Geschlecht lässt sich keine Verbindung zwischen den Opfern feststellen. Dass alle Musikinstrumente spielen, fällt nicht weiter auf. Das tut in den 60ern ja fast jeder. In unserem Universum sind die Entführten in den kommenden Jahren mit Jethro Tull, Barclay James Harvest und Genesis zu Weltruhm gekommen. In diesem Paralleluniversum weiß man davon nichts. Dort finden sie sich in einem abgelegenen Cottage wieder, wo sie schwere Boxen und ein gigantisches Mischpult aus einem merkwürdigen Fahrzeug in das große Wohnzimmer wuchten dürfen.
Die Empörung über die Verschleppung wird bei fast allen Musikern schnell von Begeisterung abgelöst, als sie die ungeheuren Möglichkeiten der Technik, die in dem Cottage aufgebaut ist, begreifen. Wer immer auch ihr merkwürdiger Produzent sein mag, in wenigen Wochen haben sie ein feines Album eingespielt, das von ihrem Entführer den Namen Anser's Tree erhält.
Dr. Prog ist von den Socken. Sein Zeitexperiment hat funktioniert. Die Musiker werden noch einmal zu Roadies degradiert. (Diesmal muss das Kreuz von Dr. Prog nicht unter Mehrbelastung ächzen.) Als das Equipment und die Aufnahmen verstaut sind, gibt es ein kurzes Goodbye und die Zeitmaschine verschwindet dorthin, wo sie hingehört.
Die Musiker hörten nur noch ein trockenes Plop, als sich das Vakuum, das von der entmaterialisierten Zeitmaschine hinterlassen wurde, mit Luft füllte. Dann standen sie da - von ihrem Produzenten über den Tisch gezogen, wie es sich für Musiker gehört. Aber dieses Mal hatten sie nicht nur keine Rechte an ihren Aufnahmen, ihre Aufnahmen hatten sogar ihre Zeit verlassen.
Die Zukunft der Musiker als Musiker war vorbei, bevor sie begonnen hatte. Die Anspruchsvolleren unter ihnen zogen sich frustriert aus dem Business zurück, als sie erkennen mussten, wie wenig mit dem in ihrer Zeit vorhanden Equipment im Vergleich zu den Zauberkisten des Dr. Prog möglich war. Und wenn sie von ihren Erlebnissen mit Dr. Prog erzählten, wurde ihnen prompt die Drogenfahndung auf den Hals gehetzt.
Dr. Prog dagegen bangte während des Zeitsprungs voller Begeisterung in seiner Maschine vor sich hin. Dadurch wurde - ohne dass er das bemerkte - eine Verwerfung in der Struktur des Multiversums hervorgerufen, die dazu führte, dass sich die Masterbänder verdoppelten und ein Exemplar in unser Universum gelangte, wo es sich in Rancho Santa Margarita (Kalifornien) direkt auf dem Schreibtisch von Shawn Gordon, dem Präsidenten von ProgRock Records, materialisierte.
Was dem einen Segen ist, das ist der Schaden des anderen. Diese uralte menschliche Erfahrung bestätigte sich auch dieses Mal. Während unser Universum über ein überraschendes Prog-Meisterwerk reicher ist, das den Geist vergangener Zeiten fast unverbraucht atmet, verarmte unser Paralleluniversum schlagartig - ohne das allerdings zu bemerken.
Die an Anser's Tree beteiligten Musiker stürzten sich nach der berauschenden Erfahrung des Studioaufenthalts mit Dr. Prog sofort wieder an die Arbeit - und erlebte einen Frust nach dem nächsten. Während sie in unserem Universum kreativ jede neue technische und musikalische Neuerung auf ihre Tauglichkeit ausprobierten und dabei Meisterwerke für die Ewigkeit schufen, wandten sie sich im Paralleluniversum gefrustet von der Musik ab. Das, was sie einmal mit Dr. Prog geschaffen hatten, war für sie weit außerhalb jeder Reichweite gerückt. Und mit weniger als dem bereits Geschaffenen wollten sie sich partout nicht zufrieden geben.
Und so kam unser Paralleluniversum nie in den Genuss der Klänge von “Locomotive Breath“, „The Musical Box“ und „Poor Man’s moody Blues“. Ein Fanclub allerdings gewann dort eine Bedeutung, die er bei uns nie bekommen konnte. Dem jungen Roger Waters war es gerade gelungen David Gilmour zur Rettung einer Band herbei zu holen, die im Paralleluniversum niemand als die „Band von Roger Waters bezeichnen“ würde, als jener David von Dr. Prog für einige Gitarren- und Saxophon-Soli entführt wurde. Nach der Rückkehr aus dem Studio warf Gilmour, wie alle entführten Musiker, die musikalische Flinte ins Korn und Waters den gerade übernommenen Kram vor die Füße.
Waters stand vor einem Scherbenhaufen, der nur durch eine eigentlich unmögliche Kraftanstrengung zu kitten war. Niemand weiß, zu welchen Göttern er im Paralleluniversum betete. Aber sein Gebet hatte Erfolg. Nach einigen teuflischen Monaten stand sein Freund Syd clean vor ihm. Keine Drogen mehr, das Hirn noch nicht irreparabel geschädigt.
Gut, somit hatte das Paralleluniversum natürlich keinen Platz für “Wish you crazy Diamond were here“ oder ähnliches. Aber etliche Prog-Fans in unserem Universum würden ihre Seele dafür verkaufen, einmal hören zu dürfen, was Syd, Roger und Co. in den folgenden Jahren ausgetüftelt haben.
Die Geschichte unseres Universums hingegen ist bekannt. Im Jahre 2006 wird eine neue Seite aufgeschlagen. Shawn Gordon erfindet einen Guy Manning und behauptet frech, der habe fast alle Instrumente selbst eingespielt. Mit schlechtem Gewissen, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Aber man kann sich die Gerichtsverfahren um Urheberrechte und anderes vorstellen, wenn er die Namen angegeben hätte, die Dr. Prog ehrlich auf die Kartons der Masterbänder geschrieben hatte. Schließlich sind die betreffenden (Ex-)Musiker in unserem Universum immer noch welche und zwar Weltstars, statt als Kunsthistoriker, Lachsfischer oder VHS-Lehrer ihr Dasein zu fristen.
Und jetzt kennt ihr die wahre Geschichte von Ansers Tree.
Wer Beweise will, hört sich “Margaret Montgomery“ an - Jethro Tull mit stark folkloristischem Einschlag und viel Violine neben der Flöte (Würde der Star Ian Anderson das in unserem Universum neben sich dulden?);
oder die Gilmour-Solos in “William Barras“ (Gitarre) und “Dr. Jonathan Anser“ (Saxophon);
Insgesamt verfolgt die Scheibe dabei einen aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus erklärbaren Bogen. Sie beginnt stark im Folk verwurzelt. Damit waren die britischen Musiker natürlich vertraut. Dann kommen jazzigere Parts; konnte man ihnen schnell vermitteln. Am Ende wird es dann recht progressiv mit nachlassender Folk-Tendenz. Da hatte die Zusammenarbeit mit Dr. Prog schon deutliche Spuren hinterlassen.
Wäre Prog nur bis zum Jazz gegangen wäre die Frustration der Musiker vielleicht geringer gewesen und sie hätten ihre Rolle auch im Paralleluniversum spielen können. Aber diese Überlegungen sind müßig. Egoistisch gesprochen kann es uns nur recht sein. Denn das ruhig beginnende Dr. Jonathan Anser, das sich durch einen rhythmischen Mittelteil zum dramatischen mit dem Gilmour-Saxophon-Solo steigert, ist zweifellos ein Highlihgt des Albums; vielleicht sogar seine Quintessenz. Das würde dann auch den CD-Titel erklären.
Noch ein Gerücht zum Schluss: Angeblich hat Manning Gilmour die Mastertapes von “Dr. Jonathan Anser“ vorgespielt, bevor der sein aktuelles Soloalbum aufgenommen hat.
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