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"Ich bin kein Vegetarier." So der 1946 geborene belgische Dirigent und Sänger René Jacobs in einem Interview über seinen inzwischen vielfach preisgekrönten Interpretationsansatz. Fantasie, Sinnlichkeit und Lebendigkeit prägen seine Aufführungen barocker und klassischer Musik. Bei aller Klarheit sind sie mit ihrer spürbaren physischen Energie und Ausdrucksintensität inzwischen weit entfernt von den manchmal doch sehr keuschen Anfängen der historisch informierten Aufführungspraxis seit den 1950er und 1960er Jahren.
Jacobs lebensnahes Musiktheater, die kräftigen Kontraste und die lustvoll zelebrierte vokale wie instrumentale Virtuosität scheinen eher von den originalen barocken Kunstwerken eines Caravaggio und Bernini mitinspiriert.
STILISTISCHE KONSEQUENZ
Vor allem als Leiter seines eigenen, 1977 gegründeten Ensembles Concerto Vocale und als Gastdirigent renommierter Klangkörper wie der Akademie für Alte Musik Berlin, von Concerto Köln oder dem Freiburger Barockorchester hat Jacobs unüberhörbare und wegweisende Klangmarken in die musikalische Landschaft gesetzt. Ob er vergessene Meisterwerke von Antonio Cesti, Francesco Cavalli, Reinhard Keiser, Leopold Gassmann und Alessandro Scarlatti ausgräbt oder ob er sich der vielgespielten Klassiker von Bach bis Mozart annimmt: Immer wieder bereitet der Belgier seinen Hörern Aha-Momente, sei es, weil das sattsam Bekannte bei ihm frisch und unverbraucht klingt, sei es, weil er Vorurteile in Bezug auf das vernachlässigte, nur vermeintlich staubtrockene ältere Repertoire widerlegt. Mit seinem Mut zur stilistischen Konsequenz ohne falsche Scheuklappen hat er die Interpretationsmöglichkeiten für die Musik des 17. und 18. Jahrhundert ausgelotet, erweitert und manchmal geradezu revolutioniert.
INTERPRETATORISCHE AHA-ERLEBNISSE
Als er 1990 in Händels Giulio Cesare für starke Kontraste zwischen den Arien sorgte, indem er u. a. extrem schnelle oder langsame Tempi anschlug und in den Wiederholungen üppig verzieren ließ, zeigte er, dass der dramaturgische Motor der italienischen Opera seria nicht so sehr die äußere Handlung, sondern das stete Wechselbad der kunstvoll inszenierten Affekte ist. Die freilich schlummern latent auch in den oft als dröge empfundenen Rezitativen, die Jacobs ausgesprochen lebhaft und in normalem Sprechtempo deklamieren ließ. Die zupackende und zugleich sensible Auslotung des expressiven Gefälles trieb dieses fast vier Stunden dauernde Hauptwerk Händels ohne die üblichen Durchhänger voran.
Dabei kam Jacobs seine reiche Erfahrung mit dem italienischen Repertoire des 17. Jahrhunderts zu gute; die frühe Oper nämlich geht noch nicht von der großen Auftrittsarie aus, sondern vom sprachnahen Rezitativ. Dass die Alte Oper zunächst einmal ein Geschöpf des Wortes ist, dass sie vom Theater herkommt und sich erst nach und nach immer stärker musikalisiert, bleibt bei Jacobs auch in den Werken des 18. Jahrhunderts bis hin zu den Opern Mozarts spürbar.
Jüngst brachte er dessen oft als problematischen Spätling betrachtete La clemenza di Tito ohne die sonst üblichen Striche in den langen Rezitativen heraus. Hört man Jacobs dramaturgisch scharf konturierte Einspielung, ist kaum noch zu verstehen, wieso hier überhaupt jemals der Rotstift angesetzt wurde. Auch zeigt sich wieder, dass der Dirigent im Zweifel weniger dem Buchstaben der notierten Musik, denn der aus den Quellen ermittelten (und daher notwendig immer auch spekulativen) Aufführungspraxis der Entstehungszeit traut: Statt der üblichen spitzen Cembalo-Stützakkorde hört man ein farbigeres Hammerklavier und ein Cello, die die sparsame Generalbassbezifferung durch ausgiebige Improvisationen in Theatermusik verwandeln: Hier ein rascher Lauf im Pianoforte, dort eine markige Geste im Cello, da plötzlich ein spöttisch kommentierender Triller, dann wieder reiben sich die Linien in harschen Dissonanzen mit der Melodie der Singstimme. Mozart, so Jacobs, habe das schließlich auch so gemacht, wenn er die ersten Aufführungen einer neuen Oper vom Klavier aus leitete!
Mit von der Geschichte inspirierter Fantasie statt historisch überlebter Routine wird das alte Repertoire für moderne Ohren erfolgreich vergegenwärtigt.
OPER ALS TEAMWORK
Jacobs hat mit seinen Expeditionen in das Reich der früh- und hochbarocken italienischen Oper mehr als nur eine musikalische terra incognita erschlossen. Unter dem Stuck der vokalen Ornamente und prunkenden Tonsätze legt er mit Vorliebe die ambivalenten Wurzeln der klassischen Oper offen, die nicht als pathetisches Wagner-Bühneweihspiel, sondern als Himmel, Hölle, Narren, Götter, Helden und Heilige zusammenbringendes Spektakel auf die Welt gekommen ist. Ein Welttheater, das nicht die Projektion eines einzelnen Künstlergenies ist, sondern das Ergebnis einer selbstverständlichen Zusammenarbeit von Librettisten, Komponisten, Ausstattern und nachschöpferischen Musikern. Hier kann auf ein herzergreifendes Lamento unvermittelt ein ebenso subversiver wie derber musikalischer Spaß folgen; hier paaren sich die großen und tiefen Gefühle mit Anarchie und Wahnsinn.
Hier sind aber auch Sänger/innen und Musiker/innen herausgefordert, den Notentext aus dem Moment heraus improvisierend weiterzuspinnen und gegebenenfalls einen vokalen Stunt zu wagen, um das Publikum in Staunen zu versetzen. Entschieden anti-romantisch, aber eben nicht emotionslos ist daher auch Jacobs interpretatorischer Zugriff. Damit fasst er selbst die vermeintlich „heiligen Kühe“ des Repertoires ohne falschen Respekt an. Mit seinen temperamentvollen Bacheinspielungen und den Oratorien Händels hat Jacobs gezeigt, dass zwischen religiöser und weltlicher Kunst im Barock kein wirklicher stilistischer Unterschied bestand. Der jüngst veröffentlichte Messias gerät zur unterhaltsamen geistlichen Oper mit packender Tonmalerei und intensivem vokalen Ausdruck ohne religiöses Pathos, was liebgewordene „fromme“ Hörgewohnheiten nachhaltig irritieren dürfte.
Weitere herausragende Beispiele für Jacobs Entdeckerneugierde sind Francesco Cavallis venezianische Oper Calisto (jüngst als DVD in Herbert Wernickes kongenialer Inszenierung wiederveröffentlicht) und G. F. Händels Seria Rinaldo.
Vor allem das zweite Werk hat Jacobs „im Geist der Musik“ derart mit Spezialeffekten und Einfällen angereichert, dass er einigen Kritikern damit zu weit ging: Wo blieb denn da die vielbeschworene Textreue? Jacobs weiß, dass diese im Barock relativ ist. Monteverdi, Cesti und Cavalli lassen sich ohne mutige interpretatorische Entscheidungen überhaupt nicht überzeugend auf die Bühne bringen, weder bei Händel noch bei Mozart steht alles in den Noten.
Jacobs geht bei seinen Einrichtungen immer von den optimalen Möglichkeiten der Entstehungszeit aus: Was hätte z. B. Cavalli getan, wenn er heute mit den Mitteln seiner Zeit arbeiten müsste? Er hätte natürlich den Klangkörper den Bedingungen eines modernen Konzert- und Opernhauses angepasst und das Volumen sowie das Spektrum der Klangfarben vergrößert. Dass diese Anpassungen bei Jacobs meist ganz natürlich klingen, bestätigt die prinzipielle Richtigkeit seines Ansatzes.
AUF DER SUCHE NACH DER RICHTIGEN STIMME
Die physischen Ekstasen auf Gemälden seines Landsmannes Peter Paul Rubens haben Jacobs an anderer Stelle einmal zu grundsätzlichen Überlegungen über die Stimme in der Alten Musik angeregt. So verwies er auf die Werke Rubens im Zusammenhang mit der Diskussion um das Vibrato, das „liebliche Zittern“ (Praetorius) der Singstimme. Das nämlich hatte die historisch informierte Aufführungspraxis fast völlig aus ihren Interpretationen verbannt - nicht unbedingt zu deren Schaden, aber manchmal doch mit einer rigoristischen Strenge, die die Ausdrucksmöglichkeiten über Gebühr einschränkte. Anders Jacobs: „Also, wenn da bei Rubens nichts bebt …!“ Für Jacobs gehört ein gut sitzendes, natürliches Vibrato zur Grundausstattung jeder Singstimme. Warum es also künstlich vermeiden?
Dass er überdies nicht dem von vielen favorisierten engelgleichen Schöngesang um jeden Preis huldigt, sondern auch harsche und hässliche Töne nicht scheut, wenn sie dem Ausdruck dienen, hat seinen Einspielungen nicht nur Freunde gemacht. Jacobs kerniges, pointiertes Musizieren ist manchem mitunter auch zu druckvoll; bei aller athletischen Spannung und tänzerischem Schwung mögen einige Hörer den runden, voluminöseren Klang der „postromantischen“ Interpretation vermissen.
Dabei ist Jacobs ein ausgesprochen sängerfreundlicher Dirigent: Bevor er sich zunächst eher nebenbei dem Dirigieren zuwandte, hat er sich als Countertenor einen Namen gemacht. Das seinerzeit häufig als spektakulär und unnatürlich empfundene männliche Altregister ist inzwischen wieder fest etabliert. Dass Jacobs selbst Sänger ist, die Möglichkeiten und Grenzen von Stimmen einzuschätzen weiß und es versteht, instrumentale und vokale Kräfte aufeinander abzustimmen, hört man seinen vom Vokalen her geprägten Darbietungen immer wieder an.
AUSBLICKE
Im nächsten Jahr plant Jacobs, erstmals Werke von Rossini, Schubert und Mendelssohn zu dirigieren. Doch wird ihn dieser Schritt über die romantische Schwelle nicht davon abhalten, auch in Zukunft das ältere Repertoire weiter zu erkunden. Das 17. Jahrhundert war und ist seine erste Liebe ...
Für Januar 2007 sind Aufnahmen mit Mozartsinfonien und im Frühjahr der Don Giovanni als Abschluss von Mozarts Daponte-Opern angekündigt.
René Jacobs ... by himself |
Die bislang entstandenen, hier genannten Produktionen sind bei Jacobs langjährigem Label harmonia mundi france erschienen. Die dreißigjährige intensive Zusammenarbeit würdigt HMF durch eine exklusive Überraschungsbox René Jacobs ... by himself mit 2 CDs und einer DVD. Neben zahllosen Musikbeispieln bietet sie ein einstündiges Filmporträt.
Georg Henkel
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