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Info
Zeit: 20.01.2024
Ort: Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
Fotograf: Siegfried Duryn (Elliot Seidman), Katrin Schmidinger (Gesamtbesetzung)
Internet:
http://www.hmt-leipzig.de
Als klassisch ausgebildeter Musiker muß man sich natürlich auch in der Geschichte auskennen, und zwar nicht nur in der Musikgeschichte selbst – auch etwas Hintergrundwissen bezüglich nichtmusikalischer Inspirationsquellen von Komponisten schadet nicht. Das erste Konzert des Orchesters und des Chors der Leipziger Musikhochschule anno 2024 bietet in seiner ersten Hälfte gleich zweimal Gelegenheit zur diesbezüglichen Weiterbildung.
Antonín Dvořák behandelte in seinen Sinfonischen Dichtungen, aber auch in seinen Vokalwerken nicht selten Themen aus der Vergangenheit seiner böhmischen Heimat, und das tat er auch in „Die Erben des Weißen Berges“ op. 30, das das ansonsten sehr gelungene Programmheft (die Werkeinführungen hat mit Florian Giering ein Student des hauseigenen Instituts für Musikwissenschaft geschrieben) mal als Kantate, mal als Hymnus bezeichnet. Mit dem, was man von Bach geprägt Kantate nennt, hat das Werk strukturell weniger zu tun, in Sätze unterteilt ist es nicht, aber wer unter Hymnus ein rein hymnisches Werk, vielleicht gar noch zum Mitsingen, erwartet, der liegt gleichfalls falsch. Dirigiert von Florian Maierl, dem Leiter des Hochschulchores, entwickelt sich nach den ganz weit entfernt anmutenden Hornsignalen gleich ein breiter großer Orchesterhymnus in bedächtigem, aber durchaus vorwärtsstrebendem Tempo, den Maierl behutsam zum ersten Choreinsatz führt. Freilich braucht es nicht lange, bis man des akuten Problems der Aufführung gewahr wird: Das Orchester agiert so dominant, dass der Chor klanglich lange Zeit im völligen Abseits landet, allenfalls als Korpus wahrnehmbar ist – und von Textverständlichkeit wollen wir gar nicht erst reden, auch wenn mit der Sprache von Vítězslav Háleks Text über die Niederlage der Böhmen in der Schlacht am Weißen Berg anno 1620 sowieso noch ein weiteres Problem gelauert hätte, nämlich die Sprachbarriere zum Tschechischen. „Störfaktor“ gegenüber dem Chor sind speziell die sehr durchdringenden Violinen, und erst im ruhigeren Mittelteil kann man den Chor etwas besser, wenn auch längst noch nicht gut wahrnehmen. Im letzten Teil schraubt sich der Chor gen Forte hoch, das Orchester alsbald aber auch, und prompt wird der Chor wieder zu einer Art Orgel-Basso Continuo reduziert. Maierl hält das Tempo lange übersichtlich, nur ein Ausbruch sorgt für Gliederung, aber die Binnendynamik im Orchester überzeugt trotzdem. Im bombastischen Schluß hört der Chor schon deutlich früher auf, während das Orchester noch in Zeitlupe Schicht um Schicht draufsattelt und nur ganz zum Schluß zu sehr ausfasert.
Paul Hindemith ließ sich von Matthias Grünewald und dessen Isenheimer Altar inspirieren und schuf nicht nur eine Oper namens „Mathis der Maler“, sondern auch eine dreisätzige Sinfonie mit dem gleichen Titel, die sich überwiegend aus Tonmaterial der Oper speist, aber rein instrumental bleibt, also keine Chorsinfonie darstellt. Die Leitung übernimmt hier Dirigierprofessor Matthias Foremny, der diesmal keine Live-Werkeinführung gibt, wie er das sonst bei den Hochschulkonzerten oft tut. Das „Engelkonzert“ des ersten Satzes wird anfangs aus großer Entfernung betrachtet, trotz einiger hymnischer Einwürfe entwickelt sich aber bald temporeicheres Geschehen und bald auch ein Mix, also etwa flottes Holz über einzelnen Streicherakkorden, der in recht vielseitige Klangwelten führt. Foremny dirigiert sehr dynamikorientiert, und so zaubern seine Studenten auch einen kurzen, aber wirkungsvollen Triumph hin.
Die relativ kurze „Grablegung“ besticht durch fahle Streicherwelten, über denen melancholische Holzbläser dahindriften, und auch den Tutti verleiht Foremny einen leidenden Charakter, zumal er ein ziemlich langsames Tempo anschlägt. Richtig finster wird’s hier freilich nicht, aber das ist auch nicht geplant.
Die „Versuchung des heiligen Antonius“ holt der Dirigent von ganz unten und evoziert bald wilde Dramatik, durch einzelne Klangexplosionen geprägt, wenn Elemente aufeinanderprallen und sich im wilden Kampf duellieren. Gerne nutzt er die gestalterischen Steilvorlagen, wenn da etwa eine einsame Holzlinie gegen drei Tuttischläge gestellt wird und die Intensität der Dialoge hohe Werte annimmt. Der Kampf endet zwar vorerst in leisen Violinen-Flageoletts und mündet in lange Elegien, aber zu Ende ist er freilich noch nicht, es folgen weitere Phasen. Der große Blechchoral besitzt noch Homogenitätsreserven, aber die nötige Größe ist mit dem finalen Triumphcharakter da, so dass das Orchester mit viel Applaus und etlichen Bravi belohnt wird – im Umfeld des Rezensenten fällt auch das Wort „Gänsehaut“. Ob jemand im März dann gleich noch nach Gera oder Altenburg gefahren ist, wo das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera diese nicht eben häufig zu hörende Sinfonie auch auf dem Programm hatte?
Nach der Pause folgt zunächst eine der weiteren typischen Funktionen des Hochschulsinfonieorchesters: Der Hornist Elliot Seidman legt mit dem Hornkonzert „Campane ed arie“ op. 82 von Aulis Sallinen sein Meisterklassenexamen ab. „Campane“ heißt „Glocken“, und so verwundert es nicht, dass wir gleich im ersten der nur zwei Sätze in der düster-distanzierten Einleitung solche zu hören bekommen. Seidman agiert zunächst signalartig, aber bald wird spiel- wie ausdruckstechnische Vielfalt von ihm eingefordert, ob nun mit oder ohne Dämpfer. Der finnische Komponist sieht einzelne Dynamikwellen vor, wobei Foremny das Orchester so führt, dass Balanceprobleme mit dem Solisten ausbleiben. Immer wieder gibt es scheinbare Ansätze zu Kadenzen, die aber nach Generalpausen immer wieder mit Orchesterflächen beantwortet werden, was wiederum Seidman zu immer „zornigerem“ Spiel veranlaßt – man hört deutlich, dass Sallinen auch mit allen Wassern eines Filmmusikkomponisten gewaschen ist. Gemeinsame Arbeit von Solist und Orchester gibt es in ganz klassischer Manier aber auch, man baut an einer breit-düsteren Klangfläche, in die selbst das zum recht reich besetzten Schlagwerk gehörende Agogo einbezogen wird – und plötzlich ist der Satz zu Ende.
Satz 2, wie der erste keinen eigenständigen Namen tragend, sieht einen spukhaften, scherzoartigen Einstieg, wobei Seidman immer wieder den Dämpfer hinzu- und wegnehmen muß und sich letztlich ein recht grooviges Klangbild ergibt. Wenn der Solist sich mit Klavier und Harfe zu weiterem Düsterspuk findet, entsteht Hochspannung, auch wenn die Passage nur episodisch bleibt. Trotzdem ist die dynamische Entwicklung hin zum Finale interessant zu verfolgen, zumal Sallinen einen großen Triumph konzipiert – aber der ist noch nicht das Ende: Düstere Glocken- und Harfenklänge entschweben ins Nichts, während der Hornist hier interessanterweise schon nicht mehr mitwirkt. Ein interessantes Stück, das mit sehr viel Applaus honoriert wird.
Fiel auch das Sallinen-Stück für die allermeisten Hörer unter den Terminus „musikgeschichtliche Weiterbildung“ (so oft begegnet man dem Schaffen dieses in Finnland ziemlich populären Komponisten hierzulande nicht und dem anno 2002 entstandenen Hornkonzert schon gar nicht), so gibt es für den letzten Komponisten im Programm einen gewichtigen Anlaß, sich seinem Schaffen anno 2024 zu widmen, denn in diesem Jahr begeht die Musikwelt den 200. Geburtstag des großen Österreichers Anton Bruckner. Der hat neben seinen zum Standardrepertoire zählenden Sinfonien bekanntlich auch einiges an Chorsinfonik geschrieben, u.a. das 1886 uraufgeführte Te Deum WAB 45, das der Komponist sogar als Ersatz vorschlug, falls er es nicht schaffen würde, den vierten Satz seiner Neunten zu vollenden. Letzteres trat bekanntlich wirklich ein, aber durchgesetzt hat sich diese Aufführungsvariante nicht – man begegnet dem etwa 20minütigen Stück eher in autarker Funktion, so auch an diesem Abend. Ans Dirigentenpult tritt wieder Florian Maierl; die vier Gesangssolisten stehen ganz rechts hinten, was dem Hörer Sorgenfalten bezüglich der Balance wachsen läßt. Das bombastische Intro aus Orgel, Chor und Orchester scheint mit seiner Diffusität die Ängste zu bestätigen, aber wenn die Solisten über dem Piano-Orchester zu arbeiten haben, kommt das, was sie von sich geben, in nachvollziehbarer Weise im weiten Rund an, und auch die Balance innerhalb der Bombastpassagen, von denen es gleich im ersten Satz so manche gibt, wird besser. Wenn Tenor Fridolin Wissemann sich zu Dialogstrukturen mit dem ersten Geigenpult findet, staunt man die sprichwörtlichen Bauklötze, und auch die A-cappella-Quartette mit ihm, Bassist Vincent Hoppe, Altistin Lena Herrmann und Sopranistin Clara Steuerwald verwöhnen das Ohr des Hörers. Die fünf Sätze gehen praktisch alle attacca ineinander über, und man entdeckt viel Schönes und Gutes, etwa das beeindruckend fahle, aber trotzdem hoffnungsdurchtränkte Miserere mit seinem eigentümlich groovigen Fortgang, das strukturell wichtige Soloquartett auf „In te, Domine, speravi“, das seine Fortsetzung in einer Chorfuge findet, oder , nach einer etwas zu starken Glättung vor dem letzten Soloteil, den gekonnten fetten Schlußbombast, auch wenn irgendwas ungeplant schräg klingt und die Krankheitsquote im Publikum die Spannung verhagelt. Viel verdienten Applaus gibt es aber natürlich trotzdem.
Roland Ludwig
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