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„Swing in the City“: Das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera holt sich das Metropolitan Jazz Orchestra an seine Seite

Info

Künstler: Philharmonisches Orchester Altenburg-Gera, Metropolitan Jazz Orchestra

Zeit: 06.12.2023

Ort: Gera, Theater, Konzertsaal

Fotograf: Ronny Ristok (Theater Altenburg-Gera)

Internet:
http://www.theater-altenburg-gera.de

Musikalische Grenzgänge zwischen Jazz und Sinfonik erfreuen sich immer wieder einer großen Popularität und bieten zugleich die Chance, sonst selten gehörtes Repertoire auf die Orchesterpodien zu bringen. Hat man vor Ort eine Bigband, die in gewisser Weise mit dem Orchester verwoben ist, macht das die ganze Sache strukturell noch einmal einfacher – aber es gibt auch Schwierigkeiten zu überwinden, wie das „Swing in the City“ betitelte Dezember-Konzertprogramm am Theater Altenburg-Gera unter Beweis stellt: Das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera und das in Gera angesiedelte Metropolitan Jazz Orchestra brauchen summiert für ihre Mitglieder nämlich so viel Platz, dass die Bühne des Konzertsaals im Geraer Theater nach vorn verlängert werden muß. Die Rückseite ist mit einem glitzernden Vorhang verhangen, und man mutmaßt zunächst, dass auch dahinter noch einige Musiker versteckt worden sein könnten, die sich dann irgendwann „enthüllen“, aber diese Idee trifft nicht zu, und man entdeckt schnell auch die Jazzer rechts hinten auf der Bühne, durch ihre roten Fliegen optisch von den Orchesterkollegen abgehoben.

Sofia Gubaidulina ist nun beileibe nicht die erste Komponistin, an die man denkt, wenn man Musik für Jazzband und Orchester benennen soll. Ihre „Revuemusik“ für ebenjene Besetzung entstand 1976, interessanterweise ein Jahr nach dem Tod ihres zeitweiligen Lehrers Dmitri Schostakowitsch, der seinerseits in seinen frühen Jahren einige Kompositionen für solche Kombinationen geschaffen hatte. Die „Revuemusik“ hingegen steht ohne Parallele in Gubaidulinas Schaffen, war aber auch keine Schubladenkomposition, sondern wurde 1978 in Moskau uraufgeführt. Düstere Glocken münden in schräge Streicherglissandi, dann aber bläst der Drummer zur Jazz-Attacke und legt einen flotten Beat hin, garniert mit klasse Baßläufen und sauberen Vokalisen. In der Folge entwickelt sich ein wüster Mix aus beiden Welten, der so irgendwie gar nichts mit Schostakowitschs Herangehensweise zu tun hat – vielleicht eine bewußte Abgrenzung der Komponistin, die mit den ewigen Schostakowitsch-Vergleichen ihrer Musik nie glücklich war. Einzelne große dramatische Breaks gliedern das Geschehen, das Glöckchengeklingel erinnert an eine Schlittenfahrt, auch andere Passagen sorgen für einen gewissen Witz, während Dirigent Ruben Gazarian seine Musiker auch gekonnt zum Bau großer cineastischer Welten führt. Ein wilder Ausbruch führt zurück zum Ausgangspunkt, und nach einem langen und sinistren Düsterbreak entwickelt sich ein breiter Bombastschluß, bei dem einer der Schlagwerker glöckchenklingelnd nach hinten hinter den Vorhang verschwindet – der finale Humoreffekt. Der Applaus für das hochinteressante Stück kann allerdings eine gewisse Verwirrtheit nicht verbergen.


Duke Ellington ist da schon eher ein Kandidat, der einem als erster für besagte Kombination einfallen könnte. „Three Black Kings“ ist seine letzte Komposition, die er strukturell noch konzipieren, aber nicht mehr fertigstellen und auch nicht mehr selbst orchestrieren konnte, was dann sein Sohn (Fertigstellung des Gerüsts) und Luther Henderson (Orchestrierung) übernahmen. Die drei Sätze sind je einer strukturell wichtigen Person der Vergangenheit gewidmet, und das Programmheft ärgert den Leser mit heutzutage scheinbar erzwungenen Formulierungen wie „Machthaber of colour“, obwohl Ellington selbst im Titel die drei Könige ganz klar mit dem Adjektiv „schwarz“ belegt und das Stück eben nicht „Three Kings Of Colour“ heißt. Und Ellington dürfte nun wirklich der Letzte sein, dem man hier strukturellen Rassismus vorhalten könnte. (Über die Frage, welche Hautfarbe Balthasar und Salomo in der Realität hatten, darf trotzdem fleißig diskutiert werden, aber sie ist für den hier betrachteten Kontext unerheblich.)

Die ersten beiden Sätze, die weit in die Vergangenheit reichen, nämlich zu den erwähnten Balthasar und Salomo, hängen attacca aneinander. Mambogetrommel weicht scharfem Streicher-Riffing, die Breaks kommen eher aus der Band, ehe sich ein speedlastiges Hauptthema entfaltet. An den Folgebreaks ist aber auch das Orchester beteiligt, Ellington läßt Gazarian immer wieder Tempo rausnehmen, und die Musiker evozieren oft und gern lockere Grooves in verschiedenen Tempolagen. Da sind wir aber auch schon im salomonischen Teil, wo sich in die Spielfreude einige große bluesige Wehmut mischt, die etwas überraschend auch dessen Finale prägt – gut, der große Triumphator war der Titelheld letztlich ja doch nicht.
Den Sprung über mehrere Jahrtausende nach vorn zu Martin Luther King versinnbildlicht Gazarian mit einer längeren Pause, die vom Publikum schon für Applaus genutzt wird. Dann aber entfaltet sich eine große elegisch-nachdenkliche Klanglandschaft, die phasenweise recht flächig ausfällt – und vor allem überraschend kurz. Hier darf man spekulieren, ob Ellington eigentlich noch mehr hätte schreiben wollen. Egal – das Gehörte überzeugt.

Zu den gängigen Hits, wenn man mit einem Orchester Jazziges spielen will, gehört „Ein Amerikaner in Paris“ von George Gershwin. Gazarian legt hier ziemlich flott und munter los, wählt für die Autohupen aber eine schräge Mischstrategie (mal vorlaut, mal zurückhaltend). Im Gegensatz zur Aufführung bei der Robert-Schumann-Philharmonie im Februar 2023, wo der Beobachtungspunkt scheinbar ein Stück vom titelgebenden durch Paris streifenden Amerikaner weggerückt war, nimmt der Beobachter hier einen sehr direkten Platz am Geschehen ein, hat also vermutlich Sichtkontakt, während die bluesigen Erinnerungen sehr weit zurückgenommen werden. Auch der Mittelteil besitzt angemessen ausgewalzte Breite und badet förmlich in Melancholie, während Gazarian eine sehr große Dynamikbandbreite auffährt, wie ein Stehaufmännchen hüpft, die Band aber klanglich bedarfsweise auch mal in weitere Entfernung stellt. Im Schlußteil mutet der Gesamtsound fast zu voll und übersatt an, aber zumindest am Energietransport gibt es nichts zu deuteln, und so bricht das Publikum auch sofort in begeisterten Applaus aus.

Eduard Künneke ist jedem als Komponist der Operette „Der Vetter aus Dingsda“ ein Begriff – aber was der Mann sonst noch so geschaffen hat, das lagert heute überwiegend im Verborgenen, auch seine Tänzerische Suite, ein Concerto grosso in fünf Sätzen für Jazzband und Orchester, uraufgeführt 1929 übrigens nicht vor einem Konzert- oder Clubpublikum, sondern als Livesendung im noch jungen Medium Radio. Die Ouvertüre soll dabei das „Tempo des Foxtrot“ haben, aber der Fuchs ist zunächst reichlich flink unterwegs, ehe mit dem Einsatz der Band zumindest das gefühlte Tempo zurückgeht. Ein bluesiger Zwischenteil mit großem Bratschensolo überrascht hier strukturell, bevor es wieder flotter zur Sache geht und der Satz in einem recht dramatischen Finale mündet.
Satz 2 heißt dann auch „Blues“ und fährt schon wieder ein großes Bratschensolo auf. Gazarian läßt angemessene Melancholie sprechen, bevor das Stück aber in westernlastige Gefilde kippt und die verschrobenen Drums nochmal in andere Richtungen weisen. Der Weg führt schließlich in Bombastblues, den ein edel-zurückhaltender Schluß krönt.
Beim Vivace-Intermezzo ist der Name Programm: Alle dürfen nach Herzenslust Gas geben, nur der Drummer nicht – der muß Breaks einwerfen. Es entwickelt sich ein munteres Hin und Her, und in den letzten Sekunden darf dann endlich auch der Drummer die Sau rauslassen.
Eingefangen wird das Tier im „Valse Boston: Valse melancolique“, der sich extrem langsam entwickelt, wobei Gazarian aber trotzdem Vorwärtsdrang fordert. Die Stimmung ist sozusagen blau, nicht schwarz, einige Tutti-Weckrufe sorgen dafür, dass niemand eindämmert, und als Solist sind diesmal nicht die Bratscher gefragt, sondern u.a. der Konzertmeister. Verharrungen und einige energischere Passagen gehen Hand in Hand, und der sanfte Harfenschluß wird vom Publikum leider spannungstechnisch zerklatscht.

Das Finale hebt zunächst mit dem bereits bekannten Foxtrot an, der hier von flotten Saxophon-Themen lebt und schon einiges an Dramatik auffährt. Zum Glück klatscht niemand in die Generalpause hin zur Wiederkehr des Valse Boston hinein, der hier aber eher kompakt ausfällt und seinen Kontrast aus Zurückhaltung und einigen dramatischen Einwürfen gekonnt ausfahren kann. Dann kehren die flotten Offbeats zurück, aber das Klangbild bleibt so transparent, dass man sogar den Bandpercussionisten an seinem Xylophon hören kann, und das ist bei solchen Gelegenheiten ja das Instrument, das klanglich immer als erstes zugedeckt wird. Freunde von Bratschensoli bekommen in einem lieblichen Zwischenspiel mit Glockenspiel und Harfe noch ein solches geboten, ehe sich ein energisch-witziger Schluß entspinnt, der auf klassische Weise mit einem letzten Beckenschlag nach dem Schlußakkord endet. Gazarian und seine Musiker bekommen viel Applaus, der an Enthusiasmus zunimmt – und sie packen noch eine Zugabe aus: den ersten Satz aus „Night Creatures“ von Duke Ellington, einen flotten Groover, vom Dirigenten wieder sehr intensiv geleitet, die Breaks nur andeutend, so ganz und gar nicht nächtlich-düster daherkommend und nach einigem Bombast mit einem eher knappen Schluß endend, wobei der Effekt von Künneke hier abgewandelt wird, indem diesmal der Pianist einen ultratiefen Ton nach dem eigentlichen Schlußakkord plaziert. Feine Sache!

Roland Ludwig


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