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Artikel

Weit, weit weg: Rachmaninoff und Mussorgski beim Gewandhausorchester

Info

Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 07.12.2023

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Johann Sebastian Haenel

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

Seltsame Dinge tun sich in der Programmplanungsfraktion des Gewandhauses. Hatte schon im Oktober 2023 ein Programm aus zwei Kompositionen bestanden, die erst relativ kurze Zeit zuvor bereits im Leipziger Musentempel erklungen waren, so ist auch die erste Hälfte dieses Konzertes im Dezember 2023 mit einem Werk belegt, das es erst reichlich 12 Monate zuvor hier bereits zu hören gegeben hatte, wenngleich in diesem Falle sowohl mit einem anderen Solisten als auch mit einem anderen Dirigenten. Das eröffnet den bei beiden Konzerten anwesend Gewesenen interessante Vergleichsmöglichkeiten.

Besagtes Werk ist das 3. Konzert für Klavier und Orchester op. 30 von Sergej Rachmaninoff, damals mit der Pianistin Anna Vinnitskaya und dem Dirigenten Dmitri Jurowski, diesmal mit Evgeny Kissin (Foto) an den Tasten und Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons am Pult. Letzterer hebt in der Orchestereinleitung mit sehr behutsamer Gestaltung an, für die man ihn ja kennt, und Kissin antwortet mit sanftem, aber doch akzentuiertem Spiel. Aber wie schon ein Jahr zuvor brauchen die Beteiligten auch diesmal eine gewisse Zeit, um sich aufeinander einzustellen, und Nelsons sucht etwas nach der idealen Klangbalance. Die Klasse wechselt im Allegro ma non tanto also noch etwas – man registriert einen wunderbaren Choral aus den Celli, aber auch, dass sich Kissin weder mit dem Fagott noch mit dem Horn findet, bevor dann wieder Momente brillanten Miteinanders zu konstatieren sind. Auch der Dirigent hat mittlerweile die richtigen Einstellungen gefunden, legt ein samtweiches Orchesterkissen unter die Hauptthemawiederkehr oder läßt die Hörner so tönen, als säßen sie weit, weit weg. Unter „brillantes Miteinander“ fällt auch die düstere Hinleitung zur Kadenz, die Kissin eher zupackend nimmt – der perlende intermittierende Holzdialog hingegen schafft das letzte Quentchen Miteinander nicht. Dafür entschädigt der gefühlvolle zweite Kadenzteil, auch die Hauptthema-Rückkehr sitzt und der Schlußwitz ebenfalls.
Im Adagio-Intermezzo ist es an diesem Abend eher das Orchester, das die Glanzlichter setzt, beginnend wieder mit Nelsons, der einen sehr großen, aber zurückhaltenden Spannungsbogen aufbauen läßt. Kissins rabiater Einsatz wirkt dagegen nicht stimmungsfördernd, trotz interessanten Fortgangs und des Faktes, dass die weiteren Brüche deutlich besser eingepaßt anmuten. Aber die Trümpfe spielt hier das Orchester aus: beeindruckend fahle Klangflächen, ein elegant schwingender Rhythmus aus den Kontrabässen oder auch der wunderbare Blechchoral.
Da will sich Kissin natürlich nicht lumpen lassen, und im abschließenden Alla-breve-Finale geht er nach der angemessen herausfahrenden, aber nicht überlauten Einleitung mit einer derartigen spielerischen Leichtigkeit zu Werke, als ob da eine simple Etüde vor ihm läge. Nelsons hält das Tempo überschaubar, nimmt die Verharrungen weit zurück und auch die flotten Teile nicht überschnell – und Kissin bedankt sich, indem er in einige perlende Läufe einen hochgradig interessanten, fast spukhaften Charakter legt. Der Dirigent hat auch in puncto Balance mittlerweile die Ideallinie gefunden, ebenso in der Binnendynamik, der Energietransport in Richtung des Schlußgedankens gelingt angemessen, und in diesem Schlußgedanken ist das musikalische Miteinander von Pianist und Orchester dann so selbstverständlich, wie es nur sein kann. Das Publikum bricht sofort in begeisterten Jubel und Bravorufe aus und wird selbstredend mit einer Zugabe belohnt, auch von Rachmaninow, nämlich das Prélude in cis-Moll op. 3 Nr. 2, ein eher düsteres, mit drei markanten Akkorden anhebendes Stück, das später erst tief in den Eingeweiden des Hörers wühlt und ihn dann mit akzentuiertem Wüten konfrontiert, ehe ein brillant durchstrukturierter und hochspannender Schluß alle Zweifler, die Rachmaninow gern als reinen Salonkomponisten abqualifizieren, Lügen straft.

War es im November 2022 mit Werken von Sofia Gubaidulina und Dmitri Schostakowitsch weitergegangen, steht diesmal Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ in der bekannten Orchesterfassung von Maurice Ravel auf dem Programm – Standardrepertoire des Gewandhausorchesters, u.a. 1973 mit Igor Markevitch am Pult aufgenommen, also zu einem Zeitpunkt, als der heutige Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons noch gar nicht am Leben war, und auch erst im Februar 2019 letztmalig zu hören gewesen, also vor noch nicht gar zu langer Zeit, damals allerdings mit Krzysztof Urbański am Pult und nicht in Gegenwart des Rezensenten, dem die Wiederprogrammierung dieses von ihm sehr geschätzten Stückes also ausgesprochen recht ist, zumal er vermutet, dass von Nelsons hier vielleicht etwas Außergewöhnliches zu erhoffen sein könnte.
Die Vermutung bzw. Hoffnung bestätigt sich gleich in der eröffnenden Promenade. Das Blech kommt edel daher, wirkt aber räumlich relativ weit entfernt und strahlt nicht alles zu, und den Ton eines elegant von Bild zu Bild Schreitenden trifft Nelsons sehr genau. Zudem nimmt er die allermeisten Sätze nicht attacca, sondern legt kurze Pausen ein, um dem Hörer einen Moment des Rekapitulierens zu ermöglichen – nicht lange genug natürlich, dass etwaige Nichtkenner schon in Applaus ausbrechen könnten. Der Gnomus huscht reichlich schräg, spukhaft, unheimlich und intensiv um die Ecke – das Meisterstück gelingt aber dann in der zweiten Promenade: Was Altmeister Ralf Götz da aus seinem Horn zaubert, ist an Adel nicht mehr zu überbieten, und wenn man das Holz hier mit „Weltklasse“ betitelt, liegt man auch nicht falsch.
Theoretisch könnte das Stück hier enden, damit man seine heruntergeklappte Kinnlade wiederzufinden versuchen kann – aber dann würde man weitere Highlights verpassen. Das alte Schloss zeichnet der Dirigent in Vertretung für Viktor von Hartmann sehr behutsam, holt mit minimalen Dynamikänderungen maximale Wirkungen heraus, und den Klarinettenausklang mit „Hochspannung“ zu betiteln grenzt wieder mal an eine Untertreibung. Die witzige Holz-Kammermusik der Tuilerien gerät da fast „normal“, wobei auffällt, dass Nelsons die Satzpausen schrittweise verlängert, um der Musik noch mehr Zeit zum Atmen zu geben – auch so ein Mittel, mit minimalem Einsatz maximale Wirkungen zu erzielen. Den Unterton in Bydŀo kann der Rezensent bis heute nicht deuten, die Tuba klingt, als käme sie von weit, weit weg, und der elegante Bombast erdet dann wieder alles. Auch ins Ballett der Küken in ihren Eierschalen läßt Nelsons ins Fagott einen eigenartigen Unterton legen, der mit dem witzigen Umfeld kontrastiert. Samuel Goldenberg und Schmuyle fallen besonders durch die hier sehr scharfe Trompete auf, die den letzteren charakterisiert, auf dem Marktplatz von Limoges herrscht sehr munteres Treiben – der Kontrast zu den Katakomben von Rom kann sinnvoll kaum größer gewählt sein. „Extrem langsam, sehr groß, sehr finster, sehr gut“ steht auf dem Notizzettel des Rezensenten, und dem ist nichts hinzuzufügen. Dass die unter dem letzten Promenaden-Thema ins Nichts führenden Violinen spannungstechnisch von einem Huster ausgebremst werden, ist ärgerlich, wird aber durch die fast bösartige Energie in der Hütte der Baba Yaga kompensiert. Dass es im Hexenhaus spuken muß, ist ja eigentlich klar, und das tut es dann vor allem im Mittelteil auch, während die Reprise die Dramatik etwas zurückfährt und genau dadurch einen kongenialen Übergang ins Thema des Großen Tors von Kiew ermöglicht. Nelsons weiß natürlich, dass er das Pulver noch nicht verschießen darf, und so haben wir hier wieder eher ein edel leuchtendes als ein monumentales Motiv vor uns, und auch in der Folge setzt der Dirigent auf das Motto „niedriges Tempo, hohe Wirkung“, holt die Kammermusikpassagen von ganz unten heraus, legt angemessene Düsternis in die Glockenpassagen und setzt gegen Ende ein Glanzlicht nach dem anderen. Hat man die Pauken-Doppelschläge je so akzentuiert gehört? Und den finalen Ultrabombast derartig transparent? Wohl kaum. Der sofort losbrechende Jubel ist mehr als verdient, der sonst eher kontrollierte Rezensent reckt die Faust wie einst Boris Becker, ist sich sicher, einer Weltklasseaufführung dieses Werkes beigewohnt zu haben, und wundert sich nur, dass Konzertmeister Frank-Michael Erben die Versammlung auf der Bühne mitten im größten Jubel schon nach dem zweiten Vorhang auflöst. Egal: „Das war ein Wahnsinnskonzert“, verlautet es beim Hinausgehen wörtlich oder sinngemäß mehrfach und angesichts des zweiten Teils zu Recht, obwohl natürlich auch der erste Teil sein Scherflein zu den Glücksmomenten beigetragen hat.

Roland Ludwig


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