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Info
Zeit: 21.12.2023
Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal
Fotograf: Julia Wesely
Internet:
http://www.gewandhausorchester.de
Peter Tschaikowskis Sinfonien gehören seit langem zum Kernrepertoire des Gewandhausorchesters, wenngleich gerade die Dritte noch nicht zu Zeiten von Arthur Nikisch in den Leipziger Musentempel fand, sondern erst 1990 unter Kurt Masur. Aktuell widmet sich Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons diesen Sinfonien besonders intensiv. Dass das erst in jüngerer Vergangenheit wiederentdeckte Orchesterwerk von Mieczysław Weinberg am Gewandhaus auch schon eine vergleichsweise häufige Dichte in den Programmen aufweist, stellt hingegen keine Selbstverständlichkeit dar.
Knapp vier Jahre nach der Gewandhaus-Erstaufführung gibt es Weinbergs Konzert für Violoncello und Orchester c-Moll op. 43 nun schon zum zweiten Mal, wieder mit Sol Gabetta am Soloinstrument, aber erstmals mit dem Gewandhauskapellmeister am Pult. Nachdem man über das strukturelle Kuriosum geschmunzelt hat, dass der Stimmton aus der Klarinette kommt (es gibt keine Oboen in diesem Werk), geht es gestalterisch gleich in die Vollen: Nelsons legt ein spannendes Orchestertupfen unter die große melancholische Linie Gabettas im eröffnenden Adagio, die Gestaltung erfolgt behutsam, ohne aber zu schleppen, und Gabettas eher dunkler Celloton paßt hier exakt zur Stimmung. Auch die Tutti geraten kaum zupackender, und das ist gut so, überzeugen die elegisch-zarten Momente doch besonders, und sie würden das auch im Satzfinale mit seiner originellen Tonartwanderung im Pianissimo tun, wenn da nicht die Erkältungsquote im Publikum dagegenstünde. Um es vorwegzunehmen: Das ist das unruhigste Publikum, das der Rezensent je erlebt hat. Zu den Hustern, gern im unpassendsten, da leisesten und spannendsten Moment, gesellen sich den Raum verlassende Leute samt Schrittgeräuschen auf den Treppen, klappende Türen, ein Handy, herunterfallende Garderobenmarken, Bonbonpapiergeknister in reichlicher Menge und noch so manch anderes Geräusch, und zwei Mädels in der Reihe hinter dem Rezensenten werden von diesem und seinem linken Nebenmann mehrfach böse angeschaut und schaffen es danach trotzdem immer nur für wenige Minuten, ihr Geflüster zu unterbrechen. Letzteres wird man im Mitschnitt des Konzertes für eine CD zwar wohl nicht hören, aber generell ist der Nachbearbeiter des Materials nicht zu beneiden, falls nicht zufällig am Folgeabend ein sehr ruhiges Publikum einer ähnlich hochqualitativen Wiedergabe beigewohnt haben sollte.
Satz 2, ein Moderato, hängt attacca an und zeigt sich als munteres Hin und Her, anfangs eher locker, später dramatischer werdend, wobei den Beteiligten einige plötzliche Wendungen auf engem Raum zugemutet werden, die sie aber problemlos meistern. Gabetta wirkt auch hier wie schon im ersten Satz problemlos integriert, sowohl spielerisch wie auch balanceseitig – so muß das sein.
Die Sätze werden schrittweise immer schneller, und es sind nicht drei wie im tradierten Solokonzertschema, sondern vier – es folgt also jetzt, nicht attacca freilich, ein Allegro mit kernigen Orchesterunisoni, zu denen Gabetta physisch mitgroovt. Der leicht folkloristische Charakter bekommt durch einige spukhafte Breaks ein zweites Gesicht, in den dramatischen Einschüben muß Gabetta oft sehr energisch sägen, und auch der Übergang zur sogar als eigenständiger Satzteil benannten Cadenza ist recht kernig gehalten. Die Kadenz besticht durch einen intensiven Wechsel zwischen Verharrungen und Ausbrüchen, die Spannung wird nicht mal durch die Geräuschkulisse torpediert, und so gelingt ein brillanter Übergang ins abermals attacca anhängende Final-Allegro. Das trabt locker-munter davon, wandelt sich aber bald in einen Zirkusmarsch der Kategorie „What would Schostakowitsch do?“, bevor eine weitere Wandlung ins Verhaltene erfolgt, in dem sich Gabetta u.a. mit dem Holz zu herrlichen Dialogen findet. Die flotten Passagen hält Nelsons trotz allem kontrolliert, und das scheinbare Tutti-Finale nimmt er breit und bombastisch, so bombastisch, wie das halt mit der relativ sparsamen Besetzung (nur ein Pauker, ein Posaunist und zwei Trompeter in der hinteren Reihe) geht. Aber es hängt noch eine bedächtig-düstere Coda dran, immer langsamer und immer spannender werdend, und den Weltklasse-Schluß mit den ins Nichts verschwindenden Klarinettentönen können nicht mal die erneuten Störgeräusche trüben.
Der begeisterte Applaus wird mit einer Zugabe belohnt, sogar mit einer Orchesterzugabe, genauer dem „Gebet“ aus den 1924 komponierten „Drei Skizzen“ von Ernest Bloch in einer Fassung für Cello und Streichorchester (das Original ist für Cello und Klavier geschrieben) – möglicherweise soll auch das mit auf die CD. Das Stück entwickelt sich bedächtig, entbehrt der spannenden Dynamik aber nicht, ist relativ licht gehalten und mündet wieder in so einen enorm spannenden Schluß, in den erneut jemand zur unpassendsten Zeit reinhustet.
Peter Tschaikowskis Sinfonie Nr. 3 D-Dur op. 29 stellt einen weiteren strukturellen Sonderfall dar, denn statt der üblichen vier Sätze gibt es hier fünf. Der erste, ein Allegro brillante, hebt wie im 19. Jahrhundert nicht selten mit einer langsamen Introduktion an, die im Tempo eines Trauermarschs gehalten werden soll. Nelsons nimmt sie tatsächlich langsam und schafft es zugleich, ihr einen Vorwärtsdrang zu injizieren – theoretisch logisch, denn selbst bei einem Trauermarsch tritt man ja nicht auf der Stelle, aber praktisch gar nicht so leicht umzusetzen. Dem kongenialen Übergang in den Allegro-Hauptteil folgt allerdings ein zu nervös wirkendes Hauptthema, was sich in seiner Wiederkehr nicht bessert, trotz aller Klasse in den jeweiligen Tempohinführungen. Knatternde Fagottpassagen erzeugen coole Offbeatstrukturen, im weiteren Fortgang gibt sich das Orchester allerdings keine Blößen mehr, und das Satzfinale sieht die Grenze zum Staatstragenden, bleibt aber noch diesseits von ihr, trotz recht hoher Dosis Schlußbombast.
„Alla tedesca. Allegro moderato e semplice“ steht über dem zweiten Satz, den Nelsons sehr breit schwingend angeht, was ja eigentlich keine Übersetzung des typisch Deutschen ist – aber es gibt ja auch noch ein paar auszuspielende Unregelmäßigkeiten und später Tempoattacken aus dem Holz. Die grundsätzliche Eleganz legt der Dirigent aber in den ganzen Satz, und damit fährt er gut, wobei der witzige Schluß nun so völlig undeutsch daherkommt.
Das Andante elegiaco tupft Nelsons mit viel Liebe zum Detail hin, auch wenn der Untertitel bisweilen „Störgeräusche über Pizzikati“ lauten könnte. So manche feine Einzelleistung kommt aus Fagott oder Horn, der Choral hebt von sehr weit unten an, und der Dirigent fährt zudem ein interessantes Tempomanagement, das sich nicht nur in Elegien badet, diese aber auch nicht gezielt vermeidet, wozu der fahle Grundton prima paßt. Dass die Schlußspannung trotz der Störgeräusche steht, grenzt an ein Wunder.
Das Scherzo, ein Allegro vivo, lebt vom Kontrast aus flott-verhuschten Passagen und einem überraschend breiten Hauptthema, mischt indes auch einige unerwartete Elemente wie choralartige Posaunenmelodien ein, gerät insgesamt aber eher unauffällig. Das Allegro-con-fuoco-Finale hingegen könnte mit der Tür ins Haus fallen, was Nelsons aber sowohl tempo- als auch dynamikseitig vermeidet. Belohnt wird er trotzdem nicht: Einen gemeinsamen Zugriff aufs Hauptthema bekommen die Musiker nicht hin, was freilich auch schwierig ist, wenn die einen akzentuiert, die anderen choralartig spielen müssen. Die souverän konstruierte Streicherfuge entschädigt dafür freilich. Der Finaltriumph braucht etwas, um sich zu entfalten, aber die schon den ganzen Finalsatz über zu bemerkende sehr druckvolle Paukengestaltung holt die Kastanien aus dem Feuer und erweist sich als wirkungsvoller Haupttrumpf, zumal lauter auch niemand husten kann. Lauter Jubel und einige Bravi belohnen Andris Nelsons und das Gewandhausorchester für eine gelungene Aufführung unter schwierigen äußeren Bedingungen.
Roland Ludwig
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