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Wagner, Orgeln und Mongolen: Das Leipziger Universitätsorchester spielt Smyth, Rimski-Korsakow und Saint-Saëns

Info

Künstler: Leipziger Universitätsorchester

Zeit: 02.07.2023

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Simon Chmel

Internet:
http://www.uni-leipzig.de/orchester

Programme des Leipziger Universitätsorchesters zeichnen sich bisweilen durch originelle, sonst selten zu hörende Werke aus – aber auch in diesem Kontext kann es zu gewissen Überschneidungen kommen. Den schlagenden Beweis dafür tritt das Sommersemesterkonzert 2023 an, das mit der Ouvertüre zu Ethel Smyths Oper „The Wreckers“ anhebt, einem Werk, für das sich trotz interessanter Wagner-Parallelen jahrzehntelang praktisch niemand interessierte, bis es in der Gegenwart eine völlig unvermutete Renaissance erlebt hat, so dass Musik aus dieser Oper im Gewandhaus sowohl mit dem Gewandhausorchester als auch mit dem MDR-Sinfonieorchester zu hören war, aber auch außerhalb des Leipziger Musentempels erklang, so etwa mit dem Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera. Nun macht eine solche Häufung die Musik natürlich nicht schlechter – ganz im Gegenteil: Die grundsätzliche Qualität der instrumentalen Teile, um die es in diesem Kontext ausschließlich geht (Neuproduktionen der ganzen Oper bleiben Ultrararitäten), läßt eine mehrfache Erschließungsmöglichkeit als dankbar angenommene Option erscheinen, zumal in den konkreten Interpretationsansätzen durchaus Unterschiede zu erkennen sind. Ilya Ram animiert die Studenten des Leipziger Universitätsorchesters jedenfalls, enorm flott zu Werke zu gehen, auch die schwingenderen Passagen besitzen noch sehr viel Vorwärtsdrang, was jedoch beides nicht auf Kosten des angestrebten Naturalismus geht. Auch das andere Extrem reizt Ram weit aus, nimmt die zurückhaltenden Passagen sehr weit zurück, sowohl die finsteren als auch die lieblichen. Das Ergebnis entfernt sich ein Stück weit vom wagneresken Tonfall, was der Hörer wahlweise als Vor- oder Nachteil interpretieren darf. Im Fortgang entwickelt Ram viel Power und erbaut im Prä-Final-Bombast eine erstaunliche Größe, wobei er die Generalpause im Bombast sehr betont ausgestaltet. An den plötzlich hereinbrechenden tänzerischen Part hat man sich freilich auch nach mehrmaligem Hören immer noch nicht richtig gewöhnt, aber Ram belohnt den Hörer wieder mit einem feisten Bombastschluß und erntet von den sehr gut gefüllten Rängen viel Applaus.

Den 15 Opern von Nikolai Rimski-Korsakow begegnet man in Mitteleuropa kaum einmal – selbst „Das Märchen vom Zaren Saltan“, die wohl bekannteste unter ihnen, besitzt Seltenheitswert (vom aus ihr stammenden, ein Eigenleben führenden und omnipräsenten „Hummelflug“ mal abgesehen) und das Opus summum, nämlich „Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronija“ als sein vorletzter Gattungsbeitrag, erst recht. Aus dieser Oper gewann der Schwiegersohn des Komponisten, Maximilian Steinberg, nach dessen Tod eine viersätzige Orchestersuite, also pure Programmusik, wobei zum riesigen Orchesterapparat noch zwei Balalaikas hinzutreten. Der „Lob der Einsamkeit“ überschriebene erste Satz stellt die im Wald in Harmonie mit der Schöpfung lebende Jungfrau Fewronija dar. Nach einem noch leicht wackligen Blechchoral macht sich bald eine märchenhafte Atmosphäre breit, die Vögel zwitschern, ein fließendes Hauptthema aus den Streichern verbreitet positive Stimmung, und der ganze Satz atmet einen verträumten Gestus.
Das bleibt indes nicht so – die Katastrophe ist nicht fern: Fewronija heiratet (okay, das ist noch nicht die Katastrophe), ihr Hochzeitszug wird von gitarrenartig zupfenden Pizzikatostreichern begleitet und entwickelt sich scherzoähnlich, wobei manche Motive fast an Schlittenglocken erinnern, und eine große Sehnsuchtsmelodie schwingt sich auf. Dann aber kommt die Katastrophe wirklich: Wir befinden uns im Jahr 1243, und laut Libretto fallen die Tataren ins Land ein – gemäß der heutigen Geschichtswissenschaft würden wir von den Mongolen sprechen. Aus den Bratschen kommt also ein bedrohliches Exzelsior, das sich im dritten Satz der Suite zum Gemälde der „Schlacht am Kerschenez“ ausweitet, ein ziemliches akustisches Getümmel, teils auch eine wilde Jagd mit galoppierenden Violinen (die Mongolen waren bekanntlich ein Reitervolk). Der Kampf wird immer intensiver, endet dann aber plötzlich, und es erfolgt eine akustische Rückführung zur Nacht.
Im vierten und letzten Satz hören wir ein klassisches Nocturne mit Glöckchen, das „selige Ende der Jungfrau Fewronija“ symbolisierend, die zugleich mit innigem Gebet dafür gesorgt hat, dass die Stadt Groß-Kitesch, nachdem Klein-Kitesch von den Invasoren geplündert und zerstört worden war, unsichtbar gemacht wird und nur noch ihr Spiegelbild zur Verwirrung der Invasoren übrigbleibt. Passenderweise transportiert auch die Musik einige unheimlich anmutende Elemente, das Tempo bleibt lange unten, und der Komponist erzeugt große Bögen, die Ram erfolgreich nachzeichnen läßt. Nach hinten heraus kommt zunächst unter-, dann auch überschwellig Tempo ins Geschehen, Glocken erklingen, und eine markante Steigerung führt zu einem lange vorbereiteten Bombastschluß überschaubarer Größe: Die Jungfrau ist mittlerweile verklärt und mit ihrem im Kampf gegen die Invasoren gefallenen Gemahl, einem Prinzen, vereint. Ram und das Orchester ernten abermals viel Jubel.


Strukturell Ungewöhnliches ereignet sich dann nach der Pause, denn es erklingt die 3. Sinfonie c-Moll op. 78 von Camille Saint-Saëns, die sogenannte Orgelsinfonie – und die hatte das Leipziger Universitätsorchester vor relativ kurzer Zeit schon einmal gespielt, nämlich im Sommersemesterkonzert 2014. Gut, das sind immerhin auch schon wieder neun Jahre, und von den damaligen studentischen Spielern wird vermutlich so gut wie keiner mehr dabeisein, auch der Dirigent war mit Raphael Haeger ein anderer – und doch verwundert die Wahl, denn bei nur zwei Konzerten pro Jahr, wobei auch noch die zwei Jahre pandemiebedingter Komplettausfall einzukalkulieren sind, kommt das Werk doch erstaunlich früh wieder zum Vorschein.
Freilich handelt es sich auch hier um eine Komposition, die man nicht eben häufig auf den Spielplänen findet, zumal man für ihre Aufführung ja auch eine Orgel braucht, die nicht jeder Konzertsaal aufbieten kann. Die 1981er Schuke-Orgel im Großen Saal des Gewandhauses ist vielseitig genug, um alle Anforderungen des Werkes zu erfüllen, wobei sie sowieso gar nicht so weit im Vordergrund steht, wie der Beiname vielleicht assoziieren könnte. Ram läßt im ersten Satz zunächst eine sehr weit zurückgenommene Dynamik sprechen. Nicht alle Einsätze sitzen paßgenau, aber es entsteht eine schön entrückte Stimmung, die in der Temposteigerung erstaunlicherweise noch erhalten bleibt und erst im Tutti planmäßig verschwindet. Mit der Bombastgestaltung überzeugt Ram genauso wie mit der Ruhe in den Pizzikati, und auch die Spannung beim großen Orgel-Einsatz weiß den Hörer zu begeistern, ebenso wie der schön choralartige Fortgang, zumal der Dirigent das Orchester wieder riesige Bögen spannen läßt und das trotz oder gerade wegen der bedächtigen Entwicklung auch bis zum Satzende durchhält.
Der zweite und zugleich letzte Satz hebt im Kontrast dazu sehr zupackend an, womit die vielen Läufe gut korrespondieren, aber trotzdem irgendwie eine Art von beschwingtem Grundgestus erhalten bleibt. Die Transparenzgestaltung läßt kaum Wünsche offen, und auch aufeinanderprallende Elemente bringt Ram problemlos unter einen Hut, etwa wenn Orgel und Streicher einen Choral intonieren, das Klavier aber perlende Läufe dagegenzusetzen hat. Hatte schon der Orgel-Prinzipal-Akkord Größe angedeutet, so baut Ram diese in logischer Weise weiter aus, erst im Tutti-Choral und dann nach einer flotten Fuge mit einer äußerst gekonnten Massenbehandlung bis zum Bombastfinale, das planmäßig den Höhepunkt zu markieren hat und das an diesem Abend auch tut – das Pulver ist also noch nicht vorher verschossen worden. Lauter Jubel belohnt den Dirigenten und das Leipziger Universitätsorchester verdientermaßen auch für diese starke Aufführung.

Ja, und dann ... ist Schluß. Man hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass es die humoristischen Zugaben früherer Jahre nicht mehr gibt und statt dessen etwas „Ernsteres“, also beispielsweise den kollektiven Gesang von Bruckners „Locus iste“ im Januar 2023. Aber so ganz ohne Zugabe entlassen zu werden, wie es an diesem ersten Juliwochenende 2023 geschieht, das verwirrt den Stammbesucher der Konzerte dieses Orchesters dann doch ...

Roland Ludwig


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