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Artikel

Nachtmusik und Vaterschaften: Die Robert-Schumann-Philharmonie koppelt Mahler mit Mayer

Info

Künstler: Robert-Schumann-Philharmonie

Zeit: 10.05.2023

Ort: Chemnitz, Stadthalle, Großer Saal

Fotograf: Christoph Koestlin

Internet:
http://www.theater-chemnitz.de

Wen es im Mai 2023 nach Liveaufführungen der Werke Gustav Mahlers gelüstet, der kann sich nach Leipzig zum 2. Internationalen Mahler-Festival begeben – aber ein Exklusivitätsanspruch resultiert daraus natürlich nicht, und so setzt die Robert-Schumann-Philharmonie im vorletzten Sinfoniekonzert der Saison 2022/23 auch eine Mahler-Sinfonie an, justament in der Woche, in der auch die Festival-Eröffnung in Leipzig ansteht, so dass früh nach Sachsen Angereiste die Option haben, sozusagen schon mal „vorzuglühen“. Im Gegensatz zum Festival, das zumindest in den Sinfoniekonzerten (nicht aber in deren „Rahmenprogramm“) ausschließlich Mahler-Werke auf dem Programm hat, ist das in Chemnitz allerdings anders – hier gibt es einen ersten Konzertteil in althergebrachter Manier, also mit einem Solisten.

Der heißt in diesem Fall Albrecht Mayer (Foto) und spielt Oboe, also ein Instrument, das in der sinfonischen Konzertliteratur nur selten berücksichtigt wird. Auch Edward Elgar konnte das ihm an- bzw. aufgetragene Oboenkonzert nicht vollenden – bei seinem Tod 1934 lag lediglich der zweite Satz vor, aber noch nicht einmal fertig instrumentiert. Was eigentlich als Konzert für Oboe und Streichorchester gedacht war, brachte Gordon Jacobs Jahrzehnte später in eine spielfähige Fassung für Oboe und Orchester unter dem Titel „Soliloquy“, und diese erlebt nun auch ihre Erstaufführung in Chemnitz. Die Streicher agieren sehr locker und luftig, die Oboe evoziert sehnsüchtige Motive, und der resultierende Kontrast aus den verhuschten Streichern und den großen Oboen-Bögen mutet ein wenig seltsam, aber nicht uninteressant an. Die Dynamik nimmt dann etwas zu, bleibt aber eher zögerlich, während der behutsam dahingetupfte Orchesterschluß emotional hoch punktet. Der Applaus erscheint freilich doch eher verwirrt.

Fehlt diesem Werk sozusagen der komplette Rahmen, so ist das Konzert für Oboe und Orchester von Fridyas Hidas vollständig – es handelt sich um die 1951 entstandene Diplomarbeit des an der Budapester Musikakademie studierenden Komponisten. Es geht also mit einem schnellen Satz los, einem Allegro, das auch Dirigent Guillermo García Calvo gleich mit entsprechendem Zug zum Tor anlegt, wodurch zugleich der folkloristische Aspekt prima zur Geltung kommt. Das Ganze bleibt stets auf traditioneller tonaler Basis, lediglich im langsameren zweiten Thema schleichen sich ein paar seltsame Rhythmusfiguren ein, für die der Komponist Jahrhunderte zuvor noch eher schief angesehen worden wäre. Mayer hat in den schnelleren Passagen bisweilen ein wenig abgehoben vom Rest des Orchesters zu agieren, findet sich mit diesem aber immer wieder auch zu Dialogpassagen in althergebrachter Manier. Ein kurzes staatstragendes Tutti führt zur überwiegend flotten, aber recht kompakt bleibenden Kadenz, an der noch ein knackiges Satzfinale hängt.
Im Andante rollen die Streicher einen hochromantischen Teppich aus, auf dem Mayer wohlig umherkullern darf – dass die angestrebte elegische Stimmung nicht zustandekommt, liegt an der Erkältungsquote im Publikum. Die bedächtige Entwicklung führt nichtsdestotrotz zu zwei großen Tutti, von denen das zweite, von Mayer in der Höhe kongenial vorbereitete ziemlich heftig ausfällt – aber die elegische Stimmung siegt: Mayer dominiert im Finale mit ebenjener auch noch über die Harfe als letzten „Unruhestifter“.
Das Finale, gleichfalls ein Allegro, hängt nicht attacca an, aber seine sofort stark ausgeprägte Dynamik erfüllt den Kontrastfaktor trotzdem mit Leben, auch der folkloristische Touch ist wieder da, das Schlagwerk hat einiges zu tun, und García Calvo legt einen gekonnten Pfad durch die sich entspinnende Dramatik hin zum kurz-knackigen Schluß. Obwohl das Werk kaum jemand vorher gekannt haben dürfte, gibt es viel Applaus, und Mayer, der gemäß seiner Ansage hier sein Debüt mit der Robert-Schumann-Philharmonie gibt und einen sehr lockeren Moderationsstil an den Tag legt („Ich gebe jetzt noch 2 Minuten und 73 Sekunden zu“), spielt keine Solozugabe, sondern holt sich Konzertmeisterin Heidrun Sandmann und jeweils den Stimmführer der anderen Streichergruppen dazu und intoniert mit denen eine richtig schön gefühlvolle Fassung der Sinfonia aus der Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ BWV 21. Als Charmeur der alten Schule wirft er dann noch Küßchen ins Publikum und kündigt seine Signierstunde in der Pause an: „Ich unterschreibe alles außer Vaterschaftsurkunden.“

Gustav Mahlers 7. Sinfonie gibt es in Leipzig beim Festival mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Daniel Harding zu hören, aber ohne den Rezensenten, der daher diesbezüglich keine Direktvergleiche anstellen kann. Also hinein ins Geschehen! Der Adagio-Beginn des ersten Satzes kommt zunächst noch etwas indifferent daher, aber die Lage klärt sich bald, und zwar in überraschender Richtung: Guillermo García Calvo entscheidet sich für viel Dynamik in relativ schnellem Tempo, auch das Marschthema entwickelt einen enormen Drive, so dass man dazu wohl kaum noch marschieren könnte. Zwangsweise gerät auch der Hauptteil, ein Allegro risoluto, ma non troppo, ziemlich flott, aber das Ganze bleibt letztlich doch in einem imaginären Rahmen und wirkt nicht überhastet. Aber es fällt schon auf, dass der düstere Mittelteil zwar relativ, aber eben nicht sehr weit zurückgenommen wird – der in der Stadthalle schnell in die Breite gehende Sound kommt der hier und da angestrebten cineastischen Wirkung durchaus entgegen. Dass der Dirigent durchaus in (programmgemäß) quälende Langsamkeit herunterschalten kann, zeigt er nach der Generalpause, während andererseits besonders die diversen Dur-Wandlungen enorme Schärfe besitzen und der Dirigent sehr viel Power ins Satzfinale legen läßt, so dass der Rezensent sogar den Satz „Hier brauchste Ohrenstöpsel“ aus seiner Umgebung hört, was angesichts der erwähnten Bauweise der Stadthalle, die den Klang schnell in die Breite zieht und damit etwas von seiner Wucht wegnimmt, schon eine Besonderheit darstellt.
Die Nachtmusik I, ein Allegro moderato, überrascht mit dem Kontrast aus sehr scharfem Horn und lockeren Holzbläsern. Der folkloristische Touch zeigt sich hier als böhmischer Waldspuk, der titelgemäß tatsächlich moderat bleibt, aber trotzdem einen zügigen Grundgestus behält. Daran ändert auch das mit Herdenglocken angetäuschte Nocturne nichts, das bald dem gewohnten Bild und letztlich einer bunten Spukwelt weicht.
Das Scherzo trägt die Subüberschrift „Fließend, aber nicht schnell; in den Anfangstakten noch etwas zögernd“ – die letztgenannte Anforderung setzt der Dirigent kongenial in Szene. Das Kontrafagott muß den Eindruck erwecken, als stürbe der Spieler beinahe, und obwohl einige dramatische Momente eingeschmuggelt werden, ist der bekannte Spuk bald wieder zurück.
Die Nachtmusik II, ein Allegro amoroso, läßt Garcia Calvo in der Tat sehr lieblich spielen, die Folkelemente sind unüberhörbar, aber auch hier wählt der Spanier trotz einiger Verharrungen ein grundsätzlich ziemlich zügiges Tempo, selbst in den verschiedentlichen Andüsterungen. Dafür verzichtet er auf allzusehr hervortretende Italien-Verweise, indem man von der Mandoline kaum etwas zu hören bekommt. Entrücktheit gibt es nur in den letzten Minuten des Satzes, dort dann allerdings reichlich.
Das Rondo-Finale hängt attacca an und besticht erstmal durch feistes Paukengedonner, wobei der Grad der transportierten Energie erstaunlich überschaubar bleibt und das Tempo auch, während der Dirigent für das Seitenthema wieder ein enorm zügiges Tempo wählt. Das Ganze klingt trotzdem nicht vordergründig fröhlich, aber auch nicht wie erzwungener Jubel, wie man ihn ein Vierteljahrhundert später in Schostakowitschs 5. Sinfonie zu hören bekommen mußte. Aber heitere Anflüge finden sich schon reichlich, etwa in vielen kammermusikalischen Passagen, und auch das Strahlen der Trompeten paßt ins Bild. Die Dramatik-Hinführung zum Gong-Ausbruch tut das gleichfalls, der Glockenbombast und der weitere Fortgang stehen aber kurz vor der Grenze zur Parodie. Das wiederum trifft auf den Schlußbombast nicht zu, den der Dirigent erstaunlich transparent von der Bühne bekommt. Die zwischenzeitlich doch arg flotten Tempi irritieren zwar in der Gesamtbetrachtung, aber am verdienten und in reichlicher Menge gespendeten Applaus rüttelt dieser Faktor natürlich nicht.

Roland Ludwig


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