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Titel: Keine Angst vor neuen Tönen. Eine Reise in die Welt der Musik
Verlag: Rowohlt Berlin
ISBN: 3 87134 478 8
Preis: € 16.80
191 Seiten
Der Dirigent Ingo Metzmacher (Jg. 1958), seit 1997 Generalmusikdirektor der Stadt Hamburg und ab Sommer 2005 Chefdirigent der Nederlandse Oper in Amsterdam, hat ein Musikbuch geschrieben: „Keine Angst von neuen Tönen“. Das erinnert wohl nicht zufällig an Metzmachers Silvesterkonzerte in Hamburg, die unter dem Motto standen: „Who is afraid of 20th Century Music“. Was dort als akustisches Abenteuer ein großer Publikumsmagnet war, begegnet jetzt sozusagen noch einmal als ausgesprochen kurzweiliger Lesetrip. Metzmacher schreibt über sein Leben mit der Musik, seine Begegnung und Auseinandersetzung mit herausragenden Komponisten des 20. Jahrhunderts. Da spricht kein Theoretiker, sondern ein begeisterter und begeisternder Musikmacher. Ein Musikmacher, der sich mit seinen offenen, unvoreingenommenen Ohren vor allem der Moderne verschrieben hat. Als er während seines Studiums auf Arnold Schönbergs „Klavierstücke op. 11“ (1909) stößt, ist das eine Erleuchtung:
„Schluss mit jeder Sentimentalität, Schluss mit Dur und Moll, ein für alle Mal Schluss mit der heilen Welt, dafür mehr Reibung und harte Dissonanzen, die als solche stehen blieben, ohne aufgelöst zu werden. Das war genau, wonach ich suchte. Denn die Welt, in der ich lebte, hatte ich nie als harmonische empfunden. Sie war voller Spannungen, die einfach nicht verschwinden wollten, ja die sich sogar ständig vermehrten. Und jeder Versuch, sie in Wohlgefallen aufzulösen, erschien mir als eine ungeheure Heuchelei. … Ich wollte den Dingen ehrlich ins Auge sehen, auch in der Musik. Und immer wenn ich die „Drei Klavierstücke“ von Arnold Schönberg übte, hatte ich das Gefühl, dass ich näher am Puls der Zeit war, einfach näher dran.“
NÄHER DRAN!
Näher dran. Das ist auch der Stil des Buches: subjektiv und leidenschaftlich (aber immer mit Blick auf die Sache, auch biographische Details tauchen eher am Rande, stets im Zusammenhang mit der Musik auf), direkt, präzise und unbelastet durch zu viel Fachchinesisch (ein Glossar am Ende des Buches hilft im Fall der Fälle schnell auf die Sprünge).
Die Gliederung orientiert sich lose an wesentlichen Kennzeichen der neueren Musik. Schlagworten wie Zeit, Farbe, Natur, Geräusch, Stille, Bekenntnis und Spiel ist eine konzentrierte Auswahl von Komponisten zugeordnet: Charles Ives und Gustav Mahler, Claude Debussy und Olivier Messiaen, Arnold Schönberg, Edgar Varèse, Luigi Nono, Karl Amadeus Hartmann, Igor Stravinsky und John Cage: Fixsterne in Metzmachers musikalischem Kosmos (Diskographie am Ende des Buches).
Dazwischen bekommt der Leser wie nebenbei einen Überblick über die Musikgeschichte des vergangenen Jahrhunderts präsentiert, wird mit den zentralen ästhetischen Strömungen, Ideen und Techniken vertraut gemacht. Dass Zwölftontechnik so einfach sein kann …!
Spannend, geradezu mitreißend sind Metzmachers Werkkommentare. So geht es also zu im Kopf eines Dirigenten. Da werden nicht Takte und Noten gezählt, sondern beim Partiturstudium Klangwelten imaginiert:
„Edgar Varèse hat insgesamt zwölf Stücke hinterlassen. Sie dauern zusammen nicht viel länger als zwei Stunden. In diesen zwei Stunden sind musikalische Energien derart miteinander vermischt, dass sie quasi zu Dynamit verschmelzen, leicht entzündbar und voller Sprengkraft. Klangmasse wird in einer Weise verdichtet, dass sie uns förmlich ins Gesicht springt. Verèse hört in das Innere der musikalischen Materie, er durchdringt ihre Oberfläche und schält den bloßen Kern heraus, er bricht die Hülle auf, in der Musik geborgen ist, er spaltet Klänge und setzt damit Kräfte frei, die wir bisher nicht kannten. …
Und so pflügt das Stück [„Amerikaniques“] wie ein riesiges Schiff vorwärts, hin und her gerissen von den Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen, die eine Reise in eine neue fremde Welt auslöst. Langsam schälen sich Konturen heraus. Die einst fernen Fanfaren der Trompeten sind jetzt ganz nah und jubilieren. Eine einsame Posaune lacht schallend. Erinnerungen, inzwischen weit weg und am Horizont verschwindend, werden überdeckt und übertönt von neuen Ausbrüchen.“
Das Buch hat ein hohes Tempo und besticht durch seine klare, bildhafte Sprache. Metzmacher entdeckt, erkundet und staunt im Wunderland der Musik, er sucht Neues und Unverbrauchtes und manchmal kämpft um jeden sperrigen Klang, bis die Sache läuft. Und er versteht es dabei, seine Neugierde und Hingabe auf den Leser zu übertragen.
Klasse.
Georg Henkel
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