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Info
Zeit: 31.03.2023
Ort: Jena, Kulturbahnhof
Internet:
http://www.kuba-jena.de
http://www.poly-math.net
http://www.kaskadeur.net
Ein Kaskadeur war das DDR-Pendant zu einem Stuntman, wobei der Begriff im Russischen aber auch noch eine andere Bedeutung aufweist, die in diesem Falle direkt was mit der Kaskade zu tun hat: Kaskadjory sind auch die Menschen, die im Winter an gefrorenen Wasserfällen Eisklettern betreiben – ein nicht ganz ungefährlicher Sport, der zudem nur in sehr begrenzten Zeitfenstern ausgeübt werden kann. Die Band namens Kaskadeur kommt freilich nicht aus Rußland, sondern aus Potsdam, wo es wenige passende Wasserfälle geben dürfte, auch wenn sie aus dem Umfeld des Kulturzentrums Brausehaus stammt. Das Quartett gastiert nicht zum ersten Mal im Kulturbahnhof in Jena, wohl aber erstmals unter diesem Namen – früher hieß die Formation Stonehenge (man verkauft noch Restbestände von Shirts mit dem alten Namen), und die hat der Rezensent anno 2018 an gleicher Stelle beim Fuzzmatazz-Festival gesehen. Bestimmte optische Elemente sind erhalten geblieben, etwa die quietschbunten Bermudas des Sängers und Gitarristen, wobei an diesem Abend auch der Drummer solche trägt und, da auch der Basser in kurzen Hosen (allerdings Jeans) auf der Bühne steht, der Keyboarder als einziger Langbehoster verbleibt. Von den Songs her konzentriert sich das Quartett auf die beiden als Kaskadeur veröffentlichten Longplayer Uncanny Valley und Phantom Vibrations, schließt aber Stonehenge-Songs nicht grundsätzlich aus, wie der Aspekt unterstreicht, dass die Setlist im Zugabenteil die Stonehenge-Nummer mit dem legendären Titel „Die Bockwurst-Metapher“ ausweist.
Das Quartett verortet seine musikalischen Wurzeln auch nach der Umbenennung in den Siebzigern, packt gelegentlich ein bissel neues Stoner-Feeling drauf, addiert eine gewisse Prog-Schlagseite und kombiniert Spielfreude, Anspruch und Humor in nachvollziehbarer wie unterhaltsamer Weise. „The Death Of Basic Trust“ etwa sagt der Vokalist als „was zum Kuscheln“ an, aber der Song erinnert dann phasenweise eher an einen Coitus interruptus. „Moving Particles“ bleibt instrumental, aber generell prägt die ausdrucksstarke klare Stimme des Gitarristen, oftmals mit einer kompetenten Zweitstimme des Keyboarders unterstützt, die Songs doch recht stark (das war zu Stonehenge-Zeiten anders, als eher die Instrumentals im Vordergrund standen), wenngleich wirklich eingängige Hits abwesend bleiben, obwohl per Ansage mit „Generation Absolution“ sogar einer versprochen wird.
Okay, unter dem langen Hauptsolo liegt hier tatsächlich fast durchgängig ein geradliniger Drumbeat, was ansonsten im Material eher Seltenheitswert besitzt. Der Gitarrist wechselt vor diesem Song an eine weiße Flying V, der Keyboarder bleibt bei seinem Leisten, viel Hammond und auch so mancherlei spacige Klänge einzustreuen, wobei er in den letzten Songs des Sets soundlich ein wenig zu stark ins Abseits gestellt wird, während das Klanggewand ansonsten schön klar und in angenehmer Lautstärke aus den Boxen dringt. In „Bubble Burst“ schaltet das Quartett für geraume Zeit in rhythmisch ziemlich ungewöhnlich strukturierten Doom herunter, was im Zugabenblock „Flashback Fatkids/Die Bockwurst-Metapher“ nochmal passiert, nachdem der Sänger einen eskapistisch-entspannt-romantischen Akustikpart mit einem Rülpser ironisch aufgelöst hat. Das leider in eher überschaubarer Kopfzahl anwesende Publikum zeigt sich vom Schaffen der vier Potsdamer durchaus angetan, und wie erwähnt gibt es auch eine Zugabe.
Setlist Kaskadeur:
Uncanny Valley
DNA
All Comes From Nothing
The Death Of Basic Trust
Truth, Curse, Lie
Moving Particles
Generation Absolution
Post High Jitters
Bubble Burst
Opportunity Gone By
Join The Cult
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Flashback Fatkids/Die Bockwurst-Metapher
Im Gegensatz zu den Potsdamer KuBa-Stammgästen sind Poly-Math zum ersten Mal hier zu Gast – und es bleibt zu hoffen, dass weitere Male folgen werden. Der Bandname läßt schon erahnen, dass hier relativ komplexe Musik zu hören sein wird, und das bewahrheitet sich auch für den Nichtkenner des Studiomaterials nach wenigen Sekunden und bleibt vom Grundsatz her auch über den ganzen Set hinweg erhalten. Das britische Quintett spielt eine Art Jazz-Metal und ist damit natürlich automatisch auch in die Prog-Szene einzuordnen, hat aber mit sagen wir John Zorn deutlich mehr zu tun als mit sagen wir Marillion. Links außen steht ein Saxophonist, der die Passagen, in denen er zum Einsatz kommt, noch stärker prägt als der Keyboarder auf der gegenüberliegenden Seite. Die beiden Saitenartisten sind gleichfalls symmetrisch angeordnet – der aus Publikumssicht links stehende Gitarrist ist nämlich Linkshänder, der Bassist aber Rechtshänder, und so zeigen die Hälse ihrer Instrumente jeweils nach außen, zumindest dann, wenn die beiden irgendwie in ihren Ausgangspositionen zu finden sind. Die Formulierung assoziiert, dass das nicht durchgehend der Fall ist, denn vor allem der mit seinem Schnauzbart eher südländisch wirkende Bassist erweist sich als Aktivposten und springt wie wild über die Bühne, als würde er bei irgendeiner Punkband spielen. Trotzdem schafft er es, seinem Instrument alle geforderten komplexen Läufe zu entlocken, und seine vier Mitmusiker sind offensichtlich genauso kompetent. Zwei, drei Songs ist der Hörer erstmal beschäftigt, das Gehörte einzuordnen und strukturell zu analysieren zu versuchen, wobei ihm die Band mit einem längeren Intro, in dem der Gitarrist noch zurückhaltende Klangflächen erzeugt und sich kaum bewegt, während der Bassist schon hochkomplexe Läufe spielt und wie ein Verrückter über die Bühne tobt, zumindest ein Stück weit entgegenkommt. Irgendwann entdeckt man dann tatsächlich wiederkehrende Muster, klassische Vierer-Wiederholungen, einige geradlinige Takte und andere Elemente, an denen man sich bei der Erschließung entlanghangeln kann, und so hat man das Gefühl, die Nummern würden gegen Ende hin immer eingängiger, wobei dieser Terminus natürlich relativ zu betrachten ist.
Ob das auch in der Tonkonserve so ist, müssen Kenner derselben beurteilen, wobei die Setlist simpel strukturiert ist: Poly-Math spielen kurzerhand ihr aktuelles Album Zenith von vorn bis hinten durch und hängen lediglich als Finale noch eine ältere Nummer an. Auch hier sorgt ein sehr klares Klangbild für gute akustische Nachvollziehbarkeit, und auch hier steht der Keyboarder in den letzten Songs kurioserweise ein wenig zu weit im akustischen Abseits, während seine vier Kollegen gut ausbalanciert sind. Gesang, der vielleicht noch eine stärkere Identifizierung mit dem Material ermöglicht hätte, liefern die fünf Musiker nicht, und der Bassist beschränkt auch die Ansagen auf das Nötigste, wobei er sich übrigens als Schnellsprecher entpuppt, so dass man ihm genau zuhören muß, um keine Information zu verpassen. Das Publikum nimmt die Musik von Poly-Math jedenfalls mit großem Interesse auf, übt sich im Schwingen des Tanzbeins zu komplexeren Rhythmusmustern und gibt sich nach dem Ende der Zenith-Wiedergabe auch nicht einfach so zufrieden, wobei nicht so ganz klar ist, ob der finale ältere Song noch als regulärer Setbestandteil oder schon als Zugabe gedacht war. Das ist aber eigentlich auch egal – hochklassige Musik in starker Darbietung bleibt’s so oder so. Die fünf Briten dürfen also gern ebenso zu Stammgästen im Kulturbahnhof werden, wie es die vier Potsdamer schon sind, möglichst aber bei besserem Füllstand als an diesem regnerischen letzten Märzabend anno 2023.
Roland Ludwig
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