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Zeit: 08.03.2023
Ort: Chemnitz, Stadthalle, Großer Saal
Fotograf: Daderot (Wikimedia Commons): Peri at the Gates of Paradise, von Thomas Crawford, 19. Jahrhundert. Corcoran Gallery of Art, Washington, D.C., USA
Internet:
http://www.theater-chemnitz.de
Dass die Robert-Schumann-Philharmonie gelegentlich auch Werke ihres Namenspatrons aufführt, stellt eine Selbstverständlichkeit dar – nur sind die Häufigkeiten, in denen die einzelnen sinfonischen Werke Schumanns erklingen, gewissen Schwankungen unterworfen. Das Oratorium „Das Paradies und die Peri“ op. 50 etwa gab es in Chemnitz letztmalig zu hören, als die Stadt noch den Namen von Karl Marx trug – im März-Sinfoniekonzert steht das Werk nach vier Jahrzehnten nun wieder einmal auf dem Programm und damit kurioserweise in der gleichen Saison, in der auch Philippe Herreweghe es im Gewandhaus wieder einmal gespielt hatte. Der Rezensent hat jene Aufführungen im Oktober 2022 allerdings ebenso verpaßt wie deren Vorgänger anno 2014 unter John Eliot Gardiner, wobei das Werk allerdings seit dem Zweiten Weltkrieg im Gewandhaus insgesamt nur viermal gegeben worden ist (neben den beiden erwähnten Malen noch 1996 und 1956). Als Chor ist in Chemnitz der MDR-Rundfunkchor dabei, der wiederum im Gewandhaus gerade zwei Wochen vorher mit Mendelssohns „Paulus“ das erklärte Vorbildwerk des Schumann-Oratoriums vor sich liegen hatte und eine erstklassige Leistung bot.
Im Gegensatz zu „Paulus“ stellt sich der textliche Hintergrund von „Das Paradies und die Peri“ für den Durchschnittshörer deutlich komplizierter dar, schon im 19. Jahrhundert und heute erst recht. Das geht schon im Titel los: Welcher aktuelle Angehörige des westlichen Kulturkreises weiß schon, was eine Peri ist? Dahinter verbirgt sich ein flugfähiges Wesen aus der persischen Mythologie (siehe das Foto einer künstlerischen Umsetzung von Thomas Crawford aus dem 19. Jahrhundert), für das allerdings offensichtlich religionsübergreifend gültige Konzepte relevant sind: Erbsünde, Paradiesvorstellung, Schuld und Sühne. Da die Peri wegen ihrer Erbsünde (in der Ahnentafel steht ein gefallener Engel) nicht ohne weiteres ins Paradies darf, wird ihr die Prüfung auferlegt, „des Himmels liebste Gabe“ zu finden, was ihr im dritten Anlauf bei einem reuigen Verbrecher auch gelingt. Drei Akte währt die Suche dann auch, eine Pause nach dem zweiten ermöglicht eine sinnvolle Konditionierung. Die Textvorlage stammt aus „Lalla Rookh“ von Thomas Moore, einem Versepos, das im romantischen England recht beliebt war und die Peri-Geschichte als eine von mehreren in eine Haupthandlung einbettet, in der sich (natürlich) ein Prinz und eine Prinzessin am Ende kriegen. Die Prinzessin trägt zu allem Überfluß auch noch den Namen Tulpenwange ...
So weit, so romantisch – und Schumanns Musik paßt sich dieser Welt natürlich an. Dirigent Guillermo García Calvo steht also vor der Aufgabe, große runde Bögen und viel Stimmung zu malen. Das gelingt ihm in der Ouvertüre mit ihrem entrückten Gestus auch prima, zumal parallel Vorwärtsdrang entsteht, sich in die Handlung einzufinden. Dass der Dirigent auch Massenbehandlung versteht, beweist etwa der sakrale Schlußchor des 1. Akts. Was man dazwischen hört, überzeugt instrumental ebenfalls – mit einer markanten Einschränkung: Es gibt oft zuviel von vielem, und darunter haben ausnahmslos alle Solosänger zu leiden, die im 1. Akt große Schwierigkeiten haben, akustisch durchzudringen, zumindest bis zu Reihe 18, wo der Rezensent sitzt. Das ist schade, denn was man hört, läßt durchaus Qualität erahnen, etwa im voluminösen Alt von Bettina Ranch. Selbst Tenor Jörg Dürmüller, der quasi die Rolle des Erzählers einnimmt, wird zu oft untergebuttert – was er kann, blitzt in einigen transparenteren Gestaltungen durch, etwa vor dem 2. Chor der Eroberer im 1. Akt. Auch Sopranistin Martina Welschenbach, die die Titelrolle verkörpert, kann sich zu wenig durchsetzen, führt aber eine richtig schöne runde Stimme ins Feld, während Bassist Alexander Kiechle in die Rolle des Usurpators relativ wenig Bosheit legt. So bleibt letztlich der Gesangstrumpf dieses ersten Aktes der MDR-Rundfunkchor, denn er präsentiert sich abermals in bestechender Form, kann sich bedarfsweise problemlos durchsetzen und überzeugt auch in den einzelnen Gestaltungen – hervorragend gelungen beispielsweise das Gesangsduell zwischen den Indern und den Eroberern. Und wenn ein ätherisches „Weh, weh, weh“ aus den Kehlen kommt, dann wartet man eigentlich nur noch auf die Frage „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“.
Für den zweiten Akt bleibt also noch etwas Steigerungspotential – und dieses wird auch tatsächlich eingelöst, wobei Schumann mitgeholfen hat, denn nach dem dramatisch-kämpferischen ersten Akt geht es im zweiten deutlich zurückhaltender zu. Und siehe da, ein paar Prozent reichen aus, um auch die bisher zugedeckten Sänger deutlich besser ins Rampenlicht zu stellen. Dazu legt Mezzosopranistin Sylva Rena Ziegler in die zurückhaltenden Passagen ziemlich viel Betörung, während Marie Hänsels locker-leichter Sopran entsprechende Wirkungsfreiheit bekommt. Da man jetzt auch den Text besser versteht (okay, man konnte ihn auch bisher im Programmheft mitlesen), fällt einem so manche Merkwürdigkeit auf, z.B. die Verortung der Nilquellen, deren genaue Lage zur Zeit von Moores Dichtung und Emil Flechsigs Übersetzung schlicht und einfach noch nicht bekannt war. Kurios auch der Rollenwechsel des den Eintritt verhindernden Engels an der Paradiespforte – offenbar hat dort nicht immer der gleiche Engel Dienst. Auch instrumental darf man viel Gutes vermerken – dass die Posaunen ausgerechnet in der Todesszene des pestkranken jungen Ägypters holpern, ist schade, bleibt aber singulär, und die sehr behutsame Chorformung im Finale des zweiten Akts läßt die Spannung stehen und weiter Großes erhoffen.
Und es kommt Großes: Der dritte Akt ist ein wenig lebendiger gezeichnet als der zweite, aber die einmal gewonnenen Tugenden läßt der Dirigent nun nicht mehr aus den Händen gleiten. Auch Bariton Zoltán Nagy tritt nun stärker ins Rampenlicht, vor allem in der Rolle als der reuige Verbrecher, wo er sehr rund und doch deutlich und durchsetzungsfähig agiert, ohne die Emotion zu vergessen. Wieder bietet sich Gelegenheit, manche Kuriosität aufzuspüren, etwa wenn die Peri eben noch tieftraurig über ihre abermalige Abweisung an der Paradiespforte ist, aber plötzlich in Aktionismus verfällt, oder wenn coole Tiefstreicher-Offbeats ein Tenorsolo untermalen. Dass Schumann „vergessen“ hat, wenigstens den einen oder anderen Hit zu schreiben, macht das Werk auch im dritten Akt schwieriger rezipierbar als den mit bekannten Chorälen aufwartenden „Paulus“, aber interessante Ideen gibt’s hier allemal, und dem bekennenden Sünder wohnt eine derartige Schlußwirkung inne, dass hinten schon jemand zu klatschen beginnt – aber da fehlt ja noch was, nämlich die finale Aufnahme der Peri ins Paradies. Die Spitzentöne liegen hier ganz zum Schluß, und Martina Welschenbach ist trotz schwieriger Dynamikaufgabe hier voll und ganz da und setzt den letzten solovokalen Glanzpunkt, während der Dirigent auch den Dynamikgipfel dort plaziert, wo er hingehört. Sehr viel Applaus belohnt eine gute Gesamtleistung mit einer markanten Steigerung mitten im Werk.
Roland Ludwig
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