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Info
Zeit: 28.09.2022
Ort: Chemnitz, Stadthalle, Großer Saal
Fotograf: Felix Broede
Internet:
http://www.theater-chemnitz.de
Spanisch kommt der Saisonauftakt 2022/23 der Robert-Schumann-Philharmonie daher, und das gleich in doppeltem, aber unerwartetem Sinne. Ein Spanier steht am Dirigentenpult, aber nicht der Generalmusikdirektor der Theater Chemnitz, Guillermo García Calvo, sondern ein Landsmann als Gastdirigent, nämlich Miguel Angel Gómez Martínez, und das Programm hebt auch gleich mit einem spanischen Werk an: Introducción y danza aus „La vida breve“ von Manuel de Falla, wobei sich hinter dem letztgenannten Titel eine Oper aus dem frühen 20. Jahrhundert verbirgt, deren Tanz aus dem 2. Akt mitsamt einer Einleitung auch ein Eigenleben als Konzertstück führt. Die Einleitung führt ohne viel Federlesen direkt ins recht dramatische Geschehen, aber die Dramatik weicht bald einem streicherdominierten schwelgerischen Nocturne, das mit einigen Holzfarben und teils altspanisch anmutender Melodik ausstaffiert wird. Eine finster-dramatische Überleitung führt in die eigentliche Tanzszene, eine fröhliche Feierlichkeit mit Kastagnetten und durchgezogenem Drei-Achtel-Takt. Sowas als lockeren Groove mit einer riesigen Orchesterbesetzung rüberzubringen ist irre schwer, aber Martínez hat das offenbar im Blut und schafft es, das nötige Gefühl auch dem Orchester einzupflanzen. Staatstragenden Pomp mit Tobe-Elementen und wütender Großer Trommel gibt es später auch noch, bevor sich ein bunter Mix aus Lockerheit und Dramatik entwickelt, der in einen knapp-flotten Schluß mündet. Das hübsche Stück dürfte für die meisten Hörer Neuland dargestellt haben und wird mit herzlichem, im besten Sinne normalem Applaus quittiert.
Am Zustandekommen der Uraufführung dieser Oper hatte Maurice Ravel (zwar gemeinhin mit Frankreich assoziiert, jedoch mit Wurzeln im Baskenland) einen Anteil, und der darf das nächste Werk des Programms beisteuern: eines seiner beiden Klavierkonzerte, nämlich das in G-Dur, also das für einen normalen zweiarmigen Pianisten. Mit Herbert Schuch (Foto) kehrt ein alter Bekannter nach Chemnitz zurück – er hatte fast genau zwei Jahre zuvor, zwischen dem ersten und dem zweiten Lockdown, an drei Abenden alle fünf Beethoven-Klavierkonzerte mit der Robert-Schumann-Philharmonie gespielt, von denen der Rezensent weiland allerdings keinen im Terminkalender unterbrachte. Nun also stilistisch doch etwas anders gelagertes Terrain – das Werk stammt aus den späten 1920er Jahren, als der Komponist bereits Jazz und andere „exotische“ Stilrichtungen kennengelernt hatte und einige Einflüsse daraus auch in seinem zumindest in der Großform noch dem klassischen Solokonzert gleichenden Werk verarbeitete. Ein Peitschenknall eröffnet das Allegramente, worauf sich gleich munteres Geplänkel zwischen dem Solisten und dem Orchester entspinnt. Die Themenfindung verzögert sich allerdings immer wieder, das Geschehen grenzt bisweilen an eine Parodie, und in dem skurrilen Mix müssen einige Musiker mitunter bewußt „falsch“ spielen, was bekanntlich eine äußerst schwierige Aufgabe darstellt. Hier und da meint man Gamelan-Einflüsse zu hören, dann wieder gibt’s große Spätromantik mit zwei Harfen, fortgeführt bis zur Entrückung. Auch die flutscht einem aber förmlich durch die Finger, das Zusammenspiel überzeugt, und der klassisch geprägte Satzschluß mutet fast cineastisch an.
Das Adagio assai fordert vom Pianisten, eine extrem lange gesangliche, aber melodisch völlig uneingängige Linie zu evozieren – Schuch tut das sehr bedächtig und spielt sehr gekonnt auf der Emotionenklaviatur, die auch die Erkältungsquote im Publikum nicht entscheidend beeinträchtigen kann. Die Linie schwingt weit aus, bevor das Holz hinzutritt – fast zu hart, aber schnell auf die Vorgabe einschwenkend, wobei die Feinabstimmung mit dem Pianisten hier noch kleine Reserven offenbart. Dafür entschädigt die herrlich unaufgeregte große Steigerung, zumal die Feinabstimmung wieder paßt und so manche Einzelleistung des Holzes den Begriff „zauberhaft“ erfordert. Im Satzschluß liegt dann auch wunschgemäß Hochspannung.
Das Presto-Finale hängt nicht attacca an, aber der Kontrast paßt auch so: Die Trommel ruft zum Angriff, der Pianist macht mit, die Bläser spielen Jazz, der Pianist macht wieder mit, und so befruchten sich die Einzelgruppen gegenseitig. Martínez schüttelt einige Beschleunigungen im Minimalbereich aus dem Ärmel, und generell wählt er ein recht zügiges Tempo, so dass die Bratschen auch mal klingen dürfen wie ein schlecht gelaunter Bienenschwarm. Gefühlt klappt die Einbindung des Pianisten ins Gesamtgeschehen hier nochmal einen Deut besser als in den vorgelagerten Sätzen, und nach dem witzig-kurz-knackigen Schluß herrscht einen Moment Verwirrung, ob das wirklich schon das Ende war, bevor Schuch und das Orchester viel verdienten Applaus samt einiger Bravi einheimsen.
Der Pianist bedankt sich mit einer Zugabe und bleibt gleich bei Ravel: Er spielt „Alborada del gracioso“ aus dem Zyklus „Miroirs“. Nach munterem Hin und Her kommt hier schon bald eine scheinbare Schlußwendung, und einige brechen schon in Applaus aus, aber das war nur der Übergang von Teil A in Teil B, dieser eher entrückt und erst schrittweise dramatischer werdend, von Schuch mit einer Vielfalt von Stimmungen perfekt gestaltet. Nach dem sehr dramatischen Schluß entsteht eine kurze Pause, da niemand erneut „vorklatschen“ will, aber das für eine Zugabe recht lange Stück ist doch zu Ende, und der Pianist erntet abermals viel Applaus.
Anno 2008 hatte der Rezensent gleich viermal das Vergnügen, Mahlers Sinfonie Nr. 1 D-Dur live zu hören – mit vier Orchestern und in vier sehr unterschiedlichen Interpretationen: eine monumentale des MDR-Sinfonieorchesters, eine technokratische des Boston Youth Symphony Orchestra, eine kammermusikalisch angehauchte des Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera und als erste, da hier in umgekehrter Chronologie aufgezählt, eine im besten Sinne konventionelle der Robert-Schumann-Philharmonie. Anno 2022 hat er im Juni eine teils wacklige, aber inspirierte Version des Chicago Youth Symphony Orchestra gehört, und nun kommt die Robert-Schumann-Philharmonie als zweiter (und für dieses Jahr vermutlich auch letzter) Klangkörper dazu. Was wird sie diesmal bieten?
Die entrückte Stimmung im ersten Satz wird erfolgreich und wiederholt durch die Erkälteten im Publikum torpediert, aber Martínez läßt sich natürlich nicht ins Bockshorn jagen und legt eine relativ überraschende Lesart hin. „Langsam, schleppend“ wie von Mahler benannt ist das jedenfalls durchaus nicht, sondern im Gegenteil vergleichsweise zügig, dabei aber mit einer Weichheit und Unaufgeregtheit dargeboten, dass man als Hörer durchaus mitgehen kann: perlend, ohne Hast. Der Kuckuck kommt mit viel Vorwitz aus dem Wald und wird erst schrittweise organischer eingebunden, die Finsternisanflüge vor der Wiederkehr des Hauptthemas wissen ebenso zu gefallen wie die Hinführung zum Tutti und dieses selbst mit seiner beeindruckenden Transparenz. Im Satzschluß deutet der Spanier mit seiner etwas schärferen Akzentuierung aber schon an, dass sich im Folgesatz vielleicht etwas ändert.
Der Terminus „vielleicht“ behält allerdings seine Berechtigung. „Kräftig bewegt“ agieren die Celli hier im Scherzo durchaus, aber der Rest der Beteiligten legt einen locker-leichten Groove hin, die Hörner agieren herrlich abseitig, und Martínez arbeitet noch weitere Kombinationen gekonnt heraus. Das Trio nimmt er allerdings sehr weit zurück, mit einem großen Kunststück freilich: Gleichzeitig vorwärtsdrängend und gemütlich zu agieren muß man erstmal hinkriegen. Fluß und Entspanntheit überzeugen auch hier, und wunderbar weiche Hornklänge leiten zur Reprise über, die der Spanier etwas dynamischer anlegt.
„Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen“ steht über dem Adagio. Der Dirigent nimmt das nicht ganz wörtlich und wählt ein sehr niedriges Tempo. Die Unruhe im Publikum verhindert zwar abermals die Entrückung, aber der Groove kommt wieder völlig unaufgeregt von der Bühne, durch flockige Offbeats ergänzt, aber einige Überleitungen schon an der Grenze zum Overacting ansiedelnd. Für diese kleine Unausgewogenheit entschädigt das sehr behutsam geformte Nebenthema, und für die Begleiterscheinungen im Finaldrittel können die Bühnenaktiven ja nix: Erst schlagen mehrfach draußen irgendwelche Türen zu (das innen mehrfach hörbare Geräusch klingt zumindest so), und im Finale klingelt erst ein Mobiltelefon lange und ausdauernd, bevor ein fetter Hustenausbruch auch noch die letzte Stimmung ins Jenseits befördert.
Auch „Stürmisch bewegt“ im Finale interpretiert Martínez leicht abweichend, nachdem er den Dynamikaufprall zu Satzbeginn noch voll ausgekostet hat. Schon das Hauptthema nimmt er etwas zurück und schafft mehr Raum für Transparenz, und in der Folge fällt er wieder in seinen geliebten Stil: flüssig, aber elegant und nicht hastend. Das weiß nicht nur den linken Nebenmann des Rezensenten zu überzeugen (der kennt das Werk offensichtlich gut, erklärt es vorher seiner links neben ihm sitzenden Tochter, dirigiert bisweilen ein bißchen mit und sieht zu allem Überfluß auch noch aus wie ein Doppelgänger von Mahler), zumal auch die Spannungserzeugung an den richtigen Stellen klappt und die Energieentwicklung planmäßig verläuft. Nur einzelne Elemente wollen sich nicht richtig einfügen, etwa wenn der Paukengroove vor dem Aufstehen der Hörner im Finale zu sperrig gerät oder die Wirkung der im Stehen spielenden Hornisten verpufft, weil ihre Trichter gegen die Saalwand gerichtet sind und die extralauten Klänge von dort sonstwohin abstrahlen, aber zumindest nicht in Richtung des Sitzplatzes des Rezensenten. Aber egal: Martínez setzt den Dynamikgipfel genau dort, wo er hingehört, nämlich in die letzten Takte (keine Selbstverständlichkeit, da so mancher Kollege schon in die Falle getappt ist, sein Pulver zu früh zu verschießen), und entlockt dem Rezensenten kurioserweise die gleiche Becker-Faust wie die jungen Chicagoer ein Vierteljahr zuvor. Zahlreiche Bravi, lauter Applaus und stehende Ovationen sind für diese starke Aufführung definitiv verdient, wenngleich einem so manche Ausprägung in der Tat ein wenig spanisch vorgekommen ist.
Roland Ludwig
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