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Artikel

Großes Problem auf Kaperfahrt: Das Magnetic Ghost Orchestra beim Jazzklub Altenburg

Info

Künstler: Magnetic Ghost Orchestra

Zeit: 24.06.2022

Ort: Altenburg, Paul-Gustavus-Haus

Internet:
http://www.jazzklub-altenburg.de
http://www.magneticghost.de

Zum dritten Mal gastiert Moritz Sembritzki beim Jazzklub Altenburg, und das, was anfangs als Moritz und das große Problem firmierte, heißt mittlerweile Magnetic Ghost Orchestra, bezeichnet seinen Stil als Large Ensemble Jazz-Avant-Pop und ist folglich so eine Art Bigband, aber eben doch in gewisser Weise anders. Sechzehn Musiker zumeist aus Berlin (aus Berlin!) hat Gitarrist/Komponist Sembritzki aktuell um sich geschart: einen Bassisten, zwei Drummer, einen Keyboarder, zwei Sängerinnen sowie zehn Bläser, die sich auf 2x Trompete, 2x Posaune, 1x Tuba, 1x Flöte und 4x Saxophon (teils mit Klarinette als Zweitjob) verteilen. Einstellungsvoraussetzung für die Saxer war dabei offenbar das Vorhandensein von Bartwuchs, aber einen Anlaß, „Kaperfahrt“ in die Setlist aufzunehmen, bildete dieser Umstand offensichtlich doch nicht. Vielleicht beim nächsten Mal ...
Oder doch nicht? Schließlich spielt die Truppe im Prinzip ausschließlich Eigenkompositionen, und die in der neuen Setlist stammen überwiegend vom schon 2019 aufgenommenen, aber erst jetzt veröffentlichten selbstbetitelten zweiten Album der Formation, als dessen Releasekonzerte die drei Gigs dieser Mini-Tour (an den Vortagen schon in Berlin und Leipzig) fungieren. Sembritzki weiß natürlich um die Stärken seiner Truppe, die Möglichkeiten, aber auch die Tücken einer solchen Besetzung, und dann ergibt sich das, was das Bandinfomaterial so beschreibt: „eine Musik, in der sich Einflüsse aus Jazz, Avantpop und Elektroakustik zu einem selbstverständlichen Sound verbinden“.
Also rein ins Geschehen! Die 17 Musiker passen irgendwie auf die Bühne im Hintergebäude des Paul-Gustavus-Hauses, vor derselben sitzen immerhin mehr Leute als auf derselben (die Zahl der Konkurrenzveranstaltungen an diesem Abend ist enorm, allein der Rezensent hat sich zwischen sechs (!) Konzertoptionen entscheiden müssen) und lauschen erwartungsfroh dem sich in den ersten beiden Teilen von „Humn“ entspinnenden Klanggeschehen, wobei sich aus dem Einspielen der sechzehn Musiker schrittweise eine Klangfläche entwickelt, in die sich Sembritzki, der als letzter kommt, zunächst mit einer Ansage und erst danach auch instrumental einschaltet. Das Doppel bleibt im Downtempo, der Baß arbeitet enorm raumgreifend, und im nahtlos anschließenden „Rain Is Pattering“ wird mit Geblubber und Gezische aus dem Synthie deutlich, dass auch psychedelische Welten ihren Einfluß hinterlassen haben. „Golden“ entwickelt sich mit seinem eklektizistischen Ansatz zu einem der markanten Ankerpunkte des Schaffens der Band: Wüstes Neutönergeschräge paart sich mit flüssigem Orchesterjazz, total abstruse Rhythmik macht mehr oder weniger regelmäßig Platz für klassische Vierviertelbeats, der solierende Saxer steht in typischer Bigbandmanier auf (und bekommt Szenenapplaus), King Crimson lugen hier und da um die Ecke, und die beiden Sängerinnen fahren schon fast ihr komplettes Spektrum zwischen Normalgesang und Sopranlage auf, wobei auffällt, dass sich beide in der Stimmfärbung in beiden Disziplinen ziemlich ähneln, aber eben doch nicht ganz deckungsgleich sind. In „Slowly“ darf der Baßgitarrist zunächst solieren, auch wenn man ihn nur hört, hinter den beiden Sängerinnen und seinem Notenständer aber kaum sieht (besser so als andersherum, wie der Rezensent aus vielen Metalkonzerten leidgeprüft weiß), und ansonsten entwickelt sich ein Mix aus Downtempo bis zur Stillstandsnähe und ein paar großen Soundwällen. In „Electricity Reigns“ wiederum stellt Sembritzki, der die Ansagen in gekonntem Infotainment hält, dem Publikum die Aufgabe, diejenige Passage zu identifizieren, in der alle ein unterschiedliches Grundtempo zu spielen haben. Die eher schräge Nummer beinhaltet sehr appellierenden Gesang und einiges an geräuschhaften Elementen, bevor sie sich zu einer Klimax mit einer refrainartigen Andeutung schwingt – und ja, dann kommt irgendwann dieser wüste Tempopart, in dem aber trotz des größten Chaos immer noch ein Rest Groove vorhanden bleibt, bevor sich ein munteres Dixiefinale entspinnt. „Men Explain Things“ führt die beiden weiblichen Stimmen erstmals markant zeilenweise weit auseinander und bietet ansonsten klassischen Doomjazz im ernst gemeinten Sinne (Vicki Vomit hatte den Terminus ja einst in den 1990ern im humoristischen Sinne erfunden, nicht ahnend, dass es Jahre später tatsächlich Bands geben würde, die so klingen) und einen hochgradig witzigen Schluß.


Damit ist das neue Material hinreichend umrissen – das vom Vorgängeralbum Sand stammende „Hangman’s Knot“ läßt ahnen, dass die Grundlinie damals schon die gleiche war, wenngleich gewisse Nuancen doch anders ausgeprägt gewesen sind. Hier entwickelt Sembritzki ein markantes Viertonthema, das dann von verschiedenen Musikern nach allen Regeln der Kunst zerlegt und wieder zusammengesetzt wird, und der Spacefaktor nimmt auch höhere Formen an als im neueren Material, sowohl im entrückteren Bereich mit Flöte, Gitarre und Synthieteppich als auch im wüsten Spacerock mit wild solierendem Bandkopf an der Gitarre. Auch derart großen geradlinigen Bombast hat man im neuen Material nicht zu hören bekommen, und die Sängerinnen fügen ihrem Spektrum mit den Angelic Voices noch eine Ausprägung hinzu, was sie im ebenfalls schon älteren „You Two Look Alike“ noch ein weiteres Mal tun, diesmal in den Shouting-Bereich, was dieser im Magnetic-Ghost-Orchestra-Kontext ebenfalls sehr geradlinigen Nummer den letzten Pfiff gibt. Offenkundig wagt sich Sembritzki im neuen Material also ein gutes Stück weiter hinaus in den avantgardistischen Bereich, was er aber gekonnt mit den Wurzeln verbindet, zumal sich im neuen Material auch Stoff verarbeitet findet, der eigentlich für einen Musicalfilm gedacht war, welcher dann aber doch nicht zustandekam – so erklärt sich dann die eine oder andere musicalkompatible schmachtende Harmonik, die hübsche Farbtupfer setzt. Diese Kombination gefällt dem Publikum, zumal auch der Soundmensch die schwierige Aufgabe, so eine Besetzung klar genug abzumischen (vom Platz des Rezensenten aus geht lediglich der Tubist hier und da klanglich ein bißchen zu weit unter, und an zwei, drei Stellen hätte man sich auch Sembritzkis Gitarre noch hervorstechender gewünscht – ansonsten hört man das, was man hören muß), zu meistern imstande ist, und so läßt man die Berliner natürlich auch nicht ohne eine Zugabe ziehen.


Setlist:
Humn 1+2
Rain Is Pattering
Golden
Slowly
Electricity Reigns
Men Explain Things
Hangman’s Knot/Toast To The Ghost
Running From The Pockets
Humn 3
Sweetest Night
--
You Two Look Alike

Roland Ludwig


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